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(K)ein Platz ganz vorne

Über den Predigttext zum 19. Sonntag nach Trinitatis: Johannes 5, 1-16

Predigttext (in Auszügen)
(…) 2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. 5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. 6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! 9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag. 10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. 11 Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! (…) 14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. (…)

Jede Epoche hat ihre Orte, wo ihre Ausgesonderten sich sammeln, die Blinden, die Lahmen, die Ausgezehrten, die Ausgemusterten, die Ausgebrannten, die Ausgestoßenen. In Betesda warten sie darauf, dass das Wasser sich bewegt. Denn ein Engel des Herrn fährt von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegt das Wasser.

Man wartet darauf, dass sich etwas tut. Man wartet, dass einer kommt, der was ändert. Man schaut „The Apprentice“. Mit dieser Fernsehshow wurde Donald Trump berühmt. Da stritten die Kandidaten um einen Einjahresvertrag in einem der Trump-Unternehmen. Wer es nicht schaffte vorn zu sein, für den hieß es: „You are fired!“.

Der „Engel des Herrn“ hat viele Erscheinungsformen. Von Zeit zu Zeit kommt er und eröffnet eine Chance. Wer Erster ist, der hat die Stelle. Wer Erster ist, der wird gesund. Die anderen warten weiter am Gewinnpool, am Stellenpool. Sie warten auf den guten Engel, die Glücksfee, das große Los. Stellen wir uns Betesda, übersetzt „Haus der Gnade“, nicht als Idyll vor, das von geduldigen Leidenden bevölkert ist.

Stellen wir uns den apokalyptischen Moment vor, wenn der Engel des Herrn herabsteigt und das Wasser bewegt. Die Blinden trampeln über die Lahmen, die Lahmen stellen ihnen ein Bein, die Ausgezehrten schubsen einander aus dem Weg: Alle beißen sie einander weg. Denn das Heil liegt darin, als Erster an diesen Teich zu kommen. Die Legende vom Engel des Herrn, der nur den Ersten gnädig ist, schickt die Menschen auf die Hatz gegeneinander, um sich gesundzustoßen.

Diese Bühne, auf der die Wartenden herumlungern, betritt Jesus und sieht einen, der das Spiel schon 38 Jahre mitmacht und jammert „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir ein.“

Wenn es nicht zum Heulen wäre, wäre es zum Totlachen: Der Lahme versucht seit 38 Jahren, der Schnellste zu sein! Und er findet keinen Menschen an diesem Ort, wo jeder sich selbst der Nächste sein muss. Aber er wartet weiter und weiter auf seine Chance. Könnte es sein, dass seine fixe Idee, ein Mal der Erste zu sein und alle anderen zu überholen, nicht die Folge seiner Lähmung ist, sondern ihre Ursache?

So was macht einen doch krank! Du kommst nur auf einen grünen Zweig, wenn du schnell bist und die anderen überholst. Gesund stößt sich nur der eine, der sich ins bewegte Wasser vorkämpft. Du hast keinen Menschen. In Betesda, da ist jeder sich selbst der Nächste. Da bleiben die Blinden und Lahmen und Ausgezehrten unter sich. Einig im Klagen über ihr Leid, Gegner aber im Kampf, da herauszukommen.

Willst du gesund werden?, fragt Jesus. Gute Frage. Will er denn eigentlich noch gesund werden? Oder hat er sich eingerichtet auf seinem Bett? Wer lange, lange krank war, oder auf Dauer arbeitslos oder in einer seelischen Krise, kennt diese Lähmung. Man verliert die Phantasie, das Gespür, den inneren Glauben, dass es je anders werden könnte. Man sagt resigniert: Warten wir ab, vielleicht bewegt sich mal was für mich.

Ach, Herr, ich habe keinen Menschen …  
Doch, du hast einen. Da steht er doch, direkt vor dir. Du siehst ihn bloß nicht. Vielleicht weil er das kranke Spiel nicht mitspielt. Vielleicht weil er dir die Illusion zerstört, das Glücksversprechen vom Engel des Herrn, der nur dem Ersten gnädig ist. Er stellt aber die heilende Frage: Willst du gesund werden? Wenn du das willst, dann steh auf, nimm dein Bett, und geh. Warte nicht, dass das Wasser sich bewegt. Warte auch nicht, dass ein anderer dich bewegt. Bewege du dich.

Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging.