Richard Wagners Musik verändert alles. Sie teilt Mendeles Leben in ein Vorher und ein Nachher. Es war der Traum des Klezmer Musikers aus dem Shtetl, der im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, einmal in Wien ein Konzert Wagners im kaiserlichen Hoftheater zu erleben. Der Traum wird wahr. Mendele fährt mit dem Zug in die große weite Welt – und erlebt sein Idol.
Schon die Ouvertüre zu „Lohengrin“ packt ihn gewaltig, ergreift ihn, stellt auf den Kopf, was er je über Musik hat zu verstehen gemeint. Mendele hört, dass Wagner ein Musikprophet sei, ein Kämpfer. Er fühlt sich mit ihm verbunden. Solche Musik, „die vom Himmel kommt“, will er auch im Shtetl spielen. Aber Wagner kommt dort nicht an. Weil diese Musik mit der jüdischen Tradition bricht, aber mehr noch, weil Richard Wagner bekanntermaßen ein Antisemit ist. Es zerreißt den Musikanten, dass Wagners Worte eine andere Sprache sprechen als seine Musik. Dennoch will er nicht glauben, dass ein Klang, eine Melodie sich einordnen lassen in das althergebrachte System von „kosher“ und „nicht kosher“. Und so trifft Mendele eine Entscheidung.
Veröffentlicht bei Theodor Herzl
Der österreichisch-jüdische Autor und Journalist Heinrich York-Steiner (1859–1934) hat diese Geschichte im ausgehenden 19. Jahrhundert in der von seinem Freund Theodor Herzl herausgegebenen Zeitung „Die Welt“ veröffentlicht. Mit der Karikatur des „Mendele Lohengrin“ spitzte er die Frage nach kultureller Identität, nach Assimilation und Integration in einer Zeit zu, in der sich das europäische Judentum politisch und gesellschaftlich emanzipierte; drei Jahrzehnte vor Hitlers Wagner-Tümelei. Der Diktator fand in der opulenten Musik die musikalische Tonspur für seinen Größenwahn.
York-Steiners Erzählung greift das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) mit einem Klezmer-Singspiel auf. Es gibt Mendele eine Stimme, verschränkt die Musik der Klezmorim mit der von Wagner und dessen Zeitgenossen und weitet den thematischen Bogen bis ins Hier und Jetzt. Denn es stelle sich bis heute die Frage, wie Kunst zu bewerten sei, selbst wenn sie von Sexisten, Rassisten oder Antisemiten komme, so das Orchester, das eine Antwort zumindest versucht, denn es spielt ja auch Wagner.
Mit dem szenisch arrangierten Stück reist das JCOM derzeit durchs Land. Am 27. und 28. Mai gastiert das Orchester in Cottbus. Es gibt im Piccolo-Theater eine Abend- und eine Schulvorstellung und wirbt damit in der Niederlausitz um Toleranz und Verständigung.
Dem Orchester sei „eine positive Herangehensweise an die jüdische Kultur“ wichtig, sagt Dirigent Daniel Grossmann. Er hat das JCOM vor
20 Jahren gegründet und verfolgt konsequent das Konzept, das Judentum von einer immer wieder anderen Seite vorzustellen – mit dem Blick in die Geschichte, mit dem Bezug zur Gegenwart, mit dem Anspruch, alle im Publikum zu erreichen.
Bei Grossmann war es Verdi, der ihn auf die Spur setzte: „Als ich mit drei Jahren zum ersten Mal ,Otello‘ in München gehört habe, habe ich beschlossen, Dirigent zu werden.“ Er habe diesen Weg dann „ziemlich stringent verfolgt“; allerdings nicht in erster Linie „um des Dirigierens willen“, sondern um Themen zu setzen, um Inhalten eine Form und ein Forum zu geben.
Enge Kooperation mit Münchner Kammerspielen
„Mendele Lohengrin“ ist ein gutes Beispiel für seine Arbeitsweise. Aus der Idee wird ein Konzept – im Austausch mit dem Dramaturgen Martin Valdés-Stauber, mit der Auswahl musikalischer Werke (hier: dem Kompositionsauftrag an Evgeni Orkin), mit dem Engagement von Sprecher (Stefan Merki) und Sängerin (Ethel Merhaut) und mit einer szenischen Einrichtung (Constanze Negwer), die den sinfonischen Rahmen behutsam und wirkungsvoll aufbricht.
Die über die Jahre schon enge Kooperation mit den Münchner Kammerspielen wird augenblicklich institutionalisiert: Das JCOM wird zum „Orchestra in Residence“, eine Verabredung, die das Orchester auch finanziell auf sicherere Füße stellen werde, so Grossmann. Aus dieser Verankerung in der bayerischen Landeshauptstadt heraus breche man immer wieder auf. Zur Geschichte gehören Tourneen etwa nach Israel, Nordamerika oder China. Vorbereitet wird gerade ein Programm zur Musiktradition der sephardischen Juden („Die Schlüssel von Toledo“, Premiere: 28. September), mit dem das JCOM unter anderem nach Madrid und Thessaloniki reisen wird.
Auch wenn das Orchester das „jewish“ im Namen trägt, sind nur die wenigsten Musikerinnen und Musiker jüdisch. „Das spielt keine große Rolle“, sagt Grossmann. Wichtig sei, dass alle „eine positive Einstellung zum Judentum“ hätten. Mit Bezug auf das Orchester erlebe er – selbst nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Attentats auf Israel mit dem daraufhin erstarkten weltweiten Antisemitismus – keine Anfeindungen, weder aus dem rechts- noch aus dem linksextremen Spektrum. Und doch beschäftige ihn „diese Hetze gegen Israel“ enorm. Kritik an der israelischen Politik sei das eine, aber „das bewusste Verwenden der Hamas-Symbolik, das Infragestellen des Existenzrechts
Israels“, das treibe ihn um.
Auch deshalb ist es für ihn wichtig, musikpädagogisch zu arbeiten. Um Menschen jedweden Alters mit der jüdischen Kultur vertraut zu machen, um Geschichte, auch der des Holocaust, eine aktuelle Relevanz zu geben. Und: um eine Nähe zu schaffen, die dem Hass den Nährboden zu nehmen vermag.