Patricia Fritze ist seit 2021 durch eine Erkrankung behindert. Das ist weder ein Grund für Bewunderung oder Mitleid noch für Rücksichtslosigkeit, findet sie. Sie schlägt vor, dass wir uns vor der Markthalle am Marheinekeplatz in Berlin-Kreuzberg treffen. In der Bergmannstraße suchen wir ein Café, in das sie, eine Frau mit Rollstuhl, ohne viel Aufwand hineinkommt. Alle haben Stufen. Die Kellnerin hält die Tür auf, während Patricia Fritze ihren Rollstuhl hochwuchtet. Eine wie sie erregt Aufsehen, ohne es zu wollen.
Vor zwei Jahren, kurz vor ihrem 25. Geburtstag, befand sich die bis dahin noch nicht offiziell behinderte Masterstudentin mal wieder in der Notaufnahme. „Mir sind öfter die Beine weggerutscht“, erklärt sie, „die Muskeln machten schlapp, ich hatte Aussetzer.“ Bis sie erfuhr, welche seltene neuromuskuläre Erkrankung sie behindert, dauerte es aber eine Weile.
Sie hadert nicht mit dem Schicksal, sondern mit den Bedingungen
Nun sitzt sie die meiste Zeit im Rollstuhl und hadert nicht mit dem Schicksal, sondern mit den Bedingungen. „Für mich ist es normal, so unterwegs zu sein“, sagt sie. „Genauso wie es für andere Menschen normal ist, dass sie mit einem anderen Körper unterwegs sind.“ Wären da nicht die alltäglichen Widrigkeiten: Busfahrer, denen egal ist, dass sie keinen Platz findet. Fahrgäste, die ihr empfehlen, doch den nächsten Bus zu nehmen.
Radlerinnen, die sie trotz ausreichend Platz nicht mit in den Aufzug lassen. Passanten, die ihr ins Gesicht greifen, „einfach so!“, oder ohne zu fragen, ihren Rollstuhl packen, sie über die Straße schieben und dafür „unendliche Dankbarkeit erwarten“. Wildfremde, die mit ihr über eigene Verletzungen reden wollen. Andere, die sie über ihre Krankheit ausfragen.
Falsche Komplimente
„Viele sind auch ohne Anlass überfreundlich“, erzählt sie, „bezahlen meine Pizza, zeigen mir den Daumen hoch.“ Oder machen ihr Komplimente, weil sie allein einkaufen geht. Das findet sie amüsant, aber auch ärgerlich: „Stellen Sie sich vor, jemand lobt Sie, weil Sie einkaufen gehen! Als wären Sie ein kleines Kind!“
So erlebt sie vor allem zwei Seiten derselben diskriminierenden Medaille: „Mitleid beziehungsweise nachgesagtes Heldentum – oder Rücksichtslosigkeit“. Vorbehalt oder Übergriffigkeit lauern an jeder Straßenecke, in jeder Begegnung. „Ich bin erwachsen, ich kann sagen, wenn ich Hilfe brauche“, erklärt Patricia Fritze. „Man muss nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden. Ich brauche auch keine Belehrungen, dass eine Stufe zu hoch oder ein Weg zu gefährlich sei – das kann ich selbst einschätzen.“ Ihr Studiensemester in New York zum Beispiel hätten die Ärzte ihr nicht zugetraut. Sie sah jedoch keinen Grund, darauf zu verzichten. „Ich will normal leben“, betont sie, „weil ich normal bin.“
Von nicht barrierefreien Bahnhöfen und kaputten Fahrstühlen
Die Außenwelt sieht das anders, obwohl rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Das fängt bei nicht barrierefreien U-Bahnhöfen und kaputten Fahrstühlen an, geht weiter bei der Notwendigkeit, 24 Stunden vor der Reise mit der Deutschen Bahn einen Antrag stellen zu müssen, damit eine Einstiegshilfe bereitsteht, und hört bei der Suche nach einer Unterkunft noch lange nicht auf. „Die angeblich barrierefreien Wohnungen sind es dann gar nicht“, sagt Patricia Fritze, „und wirklich barrierefreie sind teuer.“
Wenn sie an Regalfächer im Supermarkt nicht herankommt, wird sie kreativ, etwa, indem sie sich aus der Haushaltsabteilung einen Besenstiel nimmt, um das Produkt herunterzuangeln. „Was ich selbst kann, will ich auch selbst machen“, sagt sie, „auch wenn das anderen nicht passt.“
Evangelisches Studienwerk Villigst hilft
Ihr Leben finanziert die Masterstudentin für Kunstgeschichte durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst. „Die helfen mir total“, meint sie, „vor allem die Studienleiter.“ Außerdem hat sie einen Job als studentische Hilfskraft an der Uni, wo sie gute Erfahrungen macht – und weniger gute, etwa wenn sie bei einer Tagung nicht helfen darf. Oder wenn Bitten nach digitaler Seminar-Teilnahme verhallen, obwohl sie zu einer Corona-Risikogruppe gehört. „So einen Fall hatten wir noch nicht“, sagt man ihr dann. „Ein Satz, den ich ständig höre.“