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Im Dschungel mit Vater Wolf

Rudyard Kipling erfand das „Dschungelbuch“ – eine Welt, in der Gefahren mit Mut und Freundschaft überwunden werden

„Gerade vor ihm, an einen niedrigen Zweig geklammert, stand ein nack-ter, brauner Junge, der eben erst laufen gelernt hatte – ein ganz zartes, kleines, krauslockiges Wesen, das da in der Nacht zu einer Wolfshöhle gekommen war. Es sah dem Wolf ins Gesicht und lachte.“ So heißt es im ersten Kapitel des Romans „Dschungelbuch“ von Rudyard Kipling über Mogli, den Menschenjungen. Am 30. Dezember 1865 vor 150 Jahren wurde der Brite Kipling, der mit 41 Jahren als erster englischsprachiger Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur bekam, in Indien geboren.
Sein Geburtsort Bombay ist symptomatisch für seinen Lebenslauf und die Exotik, die sein Werk – Romane, zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte – bestimmen. Er wuchs in Indien und England auf, durchquerte schon früh Indien und Pakistan und bereiste China, Japan und die USA.
Mit noch nicht einmal 20 Jahren war der Lehrersohn für eine Zeitung in Allahabad als Korrespondent für den indischen Subkontinent tätig, verfasste Reiseberichte, die erst kürzlich erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind. Seinen Geschichten merkt man an, dass er die Länder und Menschen, Sitten, Gebräuche, aber auch die Gefahren, von denen er berichtet, gut kannte – selbst wenn es sich wie beim „Dschungelbuch“ um Phantasiegeschichten handelt.
In Deutschland wurde Kipling vor allem durch die Zeichentrick-Verfilmung des 1894 entstandenen Romans bekannt, die durch das Buch inspiriert ist, die ursprüngliche Ge-schichte aber lediglich in groben Zügen wiedergibt. Die Schlange Kaa ist im Unterschied zum Film bei Kipling etwa ein guter Freund Moglis. Der Bär Balu, dem im Film das Attribut „Gemütlichkeit“ anhaftet, verkörpert im Original einen gestrengen Mentor, der dem Jungen die Gesetze des Dschungels beibringt, damit er dort überhaupt überleben kann.
Ähnlich wie „Dschungelbuch“ ist auch „Kim“ ein Entwicklungsroman Kiplings, der Berühmtheit erlangte. Der irische Waisenjunge Kim wächst im Slum von Lahore zur Zeit der britischen Herrschaft über Indien auf, ohne seine Abstammung zu kennen, und besteht verschiedene Abenteuer. Auch er muss sich – wie Mogli – in der Fremde durchbeißen.
Möglich, dass dem Autor hier auch sein eigenes Schicksal vor Augen stand: Er verbrachte seine Kindheit größtenteils getrennt von seinen Eltern in England bei einer Pflegefamilie. Dort herrschten strenge Regeln, wie Kipling in seiner Autobiografie feststellte. Moglis „Pflegefamilie“ – das Wolfsrudel – indes charakterisiert Kipling als äußerst fürsorglich. „Obgleich sich Vater Wolfs Rachen über dem Kinde schloß, so hatten seine spitzen Zähne doch nicht einmal die weiche Haut des strampelnden Kleinen geritzt, als er ihn zu seinen eigenen Jungen legte“, heißt es in dem Roman.
Im späten 19. und frühen 20. Jahr-hundert war Kipling sehr populär: Schriftstellerkollege Henry James nannte ihn ein Genie, James Joyce stellte ihn in eine Reihe mit Tolstoi. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet sein Werk zunehmend in Vergessenheit. Dennoch hat Kipling bis heute Spuren hinterlassen. Die beliebten „Kim-Spiele“ etwa, bei denen es auf das Wahrnehmen mit allen Sinnen ankommt, stammen direkt aus dem gleichnamigen Roman: Kim, der zum Spion ausgebildet werden soll, schult so seine Aufmerksamkeit und sein Gedächtnis. KNA