Zwei herausragende Schauspieler des deutschsprachigen Raums – Tobias Moretti und Peter Kurth – liefern sich ein packendes Duell. Der Film wirft auch Fragen auf zu den Grenzen des Einsatzes von Gewalt bei Polizeieinsätzen.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
Nicht jeder hat eine zweite Chance verdient. Da ist sich der erfahrene Ermittler Wallat (Peter Kurth) sicher, insbesondere im Fall des Kindermörder Hagenow (Tobias Moretti), der nach 15 Jahren Haft entlassen wird, obwohl er weiterhin als gefährlich gilt. Wallat übernimmt die Leitung eines LKA-Teams, das den potenziellen Wiederholungstäter überwacht. Der “inoffizielle” Auftrag passt in kein Diensthandbuch: Wallat soll Hagenow auf frischer Tat “ertappen”, um ihn für immer hinter Gitter zu bringen.
Unterdessen bezieht der Ex-Sträfling ein Zimmer im Haus des Dorfpastors (Florian Stetter) und jobbt im örtlichen Sägewerk. Das LKA-Team observiert ihn rund um die Uhr. Als Wallat ihn bei einem nächtlichen Spaziergang aus den Augen verliert, beginnt am nächsten Morgen ein Albtraum: Ein Kind ist spurlos verschwunden.
Wallat und seine Kollegin sind sofort bereit, Hagenow mit jedem Mittel zum Geständnis zu zwingen. Ein älterer Kollege pocht aber auf das Einhalten der Dienstvorschriften; schließlich könnte es auch jemand anders gewesen sein. Für Wallat aber gibt es keinen Zweifel. Er vermutet, dass der Junge noch am Leben ist, aber nur wenig Zeit bleibt, um ihn zu retten
Ein herausragend besetztes Krimi-Drama von Stefan Bühling von 2020 über moralische Grenzen der Polizeiarbeit, die zur Erlangung eines vermeintlich höheren Ziels übertreten werden.
Jeder hat eine zweite Chance verdient, davon ist Pastor Christoph Berkenbusch (Florian Stetter) überzeugt. Er bietet dem Kindermörder Joseph Maria Hagenow (Tobias Moretti) nach 15 Jahren Haft eine Bleibe in seinem Haus. Die damaligen Ermittler sind dagegen alarmiert. David Wallat (Peter Kurth) übernimmt die Leitung der Überwachung.
Er soll, so die Absprache mit seiner Chefin, Hagenow nicht nur beobachten. Die Polizei will ihn in die Enge treiben und zwingen, sie zur Leiche eines seit 15 Jahren vermissten Jungen zu führen. Die Tat konnte Hagenow von Wallat damals nicht nachgewiesen werden. Der illegale, aber auch gefährliche Plan gibt dem Psychokrimi “Im Abgrund” von Stefan Bühling aus den Jahr 2020 den Rahmen.
Die Grundkonstellation erinnert an Friedrich Dürrenmatts “Es geschah am helllichten Tag”. Wie bei dem Schweizer Autor geben die Polizeibeamten einer Mutter ein Versprechen, das sie niemals aussprechen dürften: Wir werden ihren entführten Sohn finden. Und wie bei Dürrenmatt bringen sie ein weiteres Kind durch ihre Ermittlungen in Gefahr. Sie haben den Pastor in ihre Beschattungsaktion eingeweiht, aber nicht dessen Haushälterin.
Der einstige Literaturwissenschaftler Hagenow gibt sich eloquent. Er analysiert messerscharf die Situation und ist Wallat und seinen Kollegen verbal überlegen. Als Wallat während der der Nachtwache einschläft, verlässt Hagenow das Haus. Am nächsten Morgen ist Max, der Sohn der Haushälterin, verschwunden. Wallat fürchtet, dass Hagenow den Halbwüchsigen entführt und ihn wie seine damaligen Opfer in einer Kiste im Wald versteckt haben könnte.
Nun drängt die Zeit, um den Jungen zu retten. Wallat und seine Kollegin Kampe entführen Hagenow und foltern ihn mit Methoden, die der Zuschauer eher in Guantanamo und Foltergefängnissen von Diktatoren vermutet. Während die örtliche Polizei wegschaut, stemmt sich ihr Kollege, der Dritte im Überwachungssystem, gegen den Missbrauch der staatlichen Macht.
Kampe und Wallat führen aus, was Frankfurts Vize-Polizeichef Wolfgang Daschner dem mutmaßlichen Entführer Magnus Gäfgen nur angedroht hatte, um das Leben seinen potenziellen Opfers Jakob von Metzler zu retten. Er zeigte sich damals selbst an und löste damit eine Debatte über Polizeigewalt aus.
Durch das brutale Verhalten von Wallat und Kampe sammelt Hagenow Sympathiepunkte beim Zuschauer. Der wie stets grandiose Tobias Moretti übertrifft sich selbst. Er zeichnet Hagenow als einen Mann, hinter dessen Fassade das Böse lauern könnte. In der letzten halben Stunde wird der Film zudem zum erbittert geführten Duell zwischen Hagenow und Wallat, den Peter Kurth gewohnt ruppig und eigensinnig anlegt. Er observiert Hagenow selbst nach seiner Suspendierung vom Dienst.
Der Film reißt immer wieder die Diskussion um Schuld und Sühne, Vergebung und Rache an. Seine Ausstrahlung fällt aber auch in eine Zeit, in der weltweit die Gewaltbereitschaft und -ausübung von Polizeibeamten hinterfragt wird. Die Polizisten überschreiten in diesem Film permanent Grenzen, die ihnen vom Grundgesetz auferlegt sind. Sie maßen sich an, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, sogar ein Verbrechen ohne Rücksicht auf das Leben Dritter zu provozieren. Sie sind letztlich selbst in einem moralischen Dilemma gefangen, aus dem sie nicht rauskommen. Denn bis zum Schluss bleibt die Frage im Raum stehen, inwieweit ihre Anwesenheit die Entführung von Max provoziert haben könnte.