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„Ich halte Europa für eine grandiose Idee“

Im Mai 1989 konnten Beobachter nachweisen, dass bei den Wahlen in der DDR betrogen wurde. Kurze Zeit später war der Staat am Ende. 25 Jahre später scheint das Grundrecht „Wahlen“ immer weniger Menschen zu interessieren. Am 25. Mai ist Europawahl, viele fürchten auch hier eine niedrige Beteiligung. Friederike Lübke sprach mit dem Zeitzeugen Michael Heinisch und dem Jungwähler Jakob Stein.

Herr Heinisch, Sie waren bei der Kommunalwahl in der DDR am 7. Mai 1989 Wahlbeobachter. Jetzt stehen wir kurz vor der Europawahl, wie erlebten Sie die Stimmung damals und wie heute?Heinisch: Heute haben wir eine extreme Politikmüdigkeit. Ich bin ziemlich erschrocken darüber. Vor 25 Jahren war das einer der wesentlichen Punkte, die mich in der DDR gestört haben: Das Geld war nicht da, die Versorgungslage war schlecht, deshalb wollte ich wenigstens mitgestalten können. Dafür habe ich viel Prügel eingesteckt, von der Stasi und von der Polizei.Stein: Damals hat man sicher auch noch mehr miteinander diskutiert.Heinisch: Diskurs gab es ja nur in den alternativen Kreisen. Zur Wahl gab es die Standardliste mit den Kandidaten, und wer da stand, war gewählt. Wenn man die Wahlliste durchgerissen hat, war sie einfach ungültig, wenn man den ganzen Zettel durchgestrichen hat, war sie auch ungültig – und so kam es, dass man durch Wahlen nichts verändern konnte. Und dann haben wir vor der Wahl am 7. Mai 1989 in den alternativen Gruppen beschlossen, wir weisen jetzt nach, dass nicht nur das Wahlsystem schlecht ist, sondern, dass zusätzlich noch betrogen wird. Immer zwei Leute haben ein Wahllokal besetzt und nachgezählt. Dieser Wunsch nach Demokratie, nach Mitbestimmung, der war so tief drin bei uns, dass wir uns darauf eingelassen haben, dieses Wahlsystem, das eigentlich keines war, auch noch verbessern zu wollen. Es abzuschaffen wäre im Nachhinein natürlich viel besser gewesen. Aber wir waren auch bereit, mit der DDR-Staatsführung darüber zu reden, wie man es verbessern kann. Finden Sie Wahlen heute noch genauso wichtig wie damals? Heinisch: Sie sind eines der wesentlichen Elemente von Demokratiegestaltung. Das würde ich immer noch so sehen. Ohne Wahlen hat die Bevölkerung keinerlei Möglichkeit, ihren Willen zu vermitteln. Wahlen haben viel mit Vertrauen zu tun. Die Bevölkerung sagt zu einer Gruppe: Wir wollen euch jetzt für einen bestimmten Zeitraum vertrauen. Und nach vier oder fünf Jahren müssen sie sich dem Wähler stellen und sagen: Das haben wir gemacht. Wollt ihr uns wieder oder nicht? (…)

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