Schule schwänzen ist in Deutschland verboten. Einige Eltern wollen ihre Kinder aber lieber frei lernen lassen – und gehen dafür ins Ausland.
“Mama, kannst du mir helfen?”, tönt eine Stimme aus dem Hintergrund. Susanne* steht in der Zimmertür. Es ist Donnerstagvormittag, zehn Uhr. Lisa Stahl* ist mit ihren vier Kindern bei ihren Schwiegereltern in einer Wohnung in Schneeberg, einer Kleinstadt im Erzgebirge. Andere Kinder in Susannes Alter wären jetzt in der Schule. Die Elfjährige und ihre drei Geschwister aber sind sogenannte Freilerner – und ihr Aufenthalt in Schneeberg nur ein Zwischenstopp: Vor wenigen Wochen war die Familie noch in Kroatien.
Die Kinder lernen nicht in der Schule, sondern zu Hause; nicht nach Stundenplan, sondern nach eigenen Interessen. Freilerner sprechen deshalb auch von “Unschooling”, einer Abwendung von traditionellen Lehrmethoden.
Schätzungen der Kultusministerkonferenz zufolge gibt es in Deutschland 500 bis 1.000 Schulverweigerer. Genaue Zahlen sind nirgends registriert. Der Bundesverband “Natürlich Lernen” spricht sogar von 300.000.
Freilernen ist in Deutschland verboten. In sämtlichen Bundesländern gilt eine Schulpflicht. Die Ausführung ist Ländersache und wird unterschiedlich gehandhabt: In Bayern etwa beträgt die Schulpflicht zwölf Jahre, in Berlin nur zehn.
Gemeinsam ist allen Bundesländern die obligatorische Teilnahme am Unterricht: “Schulpflicht bedeutet nach geltender Rechtslage Präsenzpflicht. Kinder müssen also grundsätzlich im Unterricht persönlich anwesend sein und am angebotenen Programm teilnehmen”, sagt Rechtsanwalt Andreas Vogt. Ausnahmen würden selten zugelassen, zum Beispiel im Fall von schweren Erkrankungen oder Traumatisierungen. Die Schulpflicht sei außerdem nicht an die Staatsangehörigkeit gebunden, so Vogt: “Sie gilt für junge Menschen im Schulpflichtalter, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem jeweiligen Bundesland haben.”
Im Ausland sind die Bedingungen oft lockerer. In Spanien und Italien gilt beispielsweise sogenannte Bildungsfreiheit. Manche deutschen Eltern von Freilernern wandern mit ihren Kindern deshalb aus, um die Schulpflicht zu umgehen. Andere reisen sogar gänzlich ohne festen Wohnsitz – so auch Stahl. Mit ihren zwei Töchtern (9 und 11) und ihren zwei Jungen (6 und 4) hat sich die Mutter in Deutschland abgemeldet und zieht seitdem quer durch Europa: Kroatien, Polen, Tschechien, Norwegen. Vor ein paar Tagen war ihr Mann mit den beiden Töchtern in Erfurt, “für einen Museumstag”.
“Früher gehörten zu den Homeschoolern beziehungsweise Freilernern hauptsächlich Christen oder Ökos”, sagt Vogt. “Heute sind es Familien aus allen Gesellschaftsgruppen, deren Kinder ungern in die Schule gehen. Zum Beispiel weil sie unter den Lernbedingungen leiden oder gemobbt wurden. Da zogen die um das Wohl ihres Kindes besorgten Eltern die Notbremse.”
Stahl hat Sozialpädagogik studiert und mehrere Jahre in Deutschland als Erzieherin gearbeitet. “Mein Mann und ich waren schon immer alternativ eingestellt”, sagt sie. Den Alltag in Krippen habe sie noch als “kalt und streng” aus ihrer Kindheit in Erinnerung.
Was Stahl bei ihrer Ausbildung später in einer Krippe sah, frustrierte sie: “Wenn die Kinder schrien, durfte ich sie nicht in den Arm nehmen. Wenn schlechtes Wetter war, nicht mit ihnen rausgehen.” Nach ihrer Ausbildung kümmerte sie sich deshalb selber um ihre Kinder. Ein paar Wochen ging ihre älteste Tochter in die erste Klasse. “Dort fühlte sie sich nicht wohl”, sagt Stahl. “Sie konnte schon schreiben, da wurde ihr schnell langweilig.” Da beschloss die Familie, das Land zu verlassen. Der Vater arbeitet seitdem im Homeoffice.
In Deutschland drohen Eltern von Schulverweigerern Sanktionen: “In manchen Bundesländern ist nicht nur Bußgeld, sondern unter Umständen auch eine Freiheitsstrafe möglich”, sagt Vogt. In Betracht komme auch der Verlust oder eine Beschränkung des Sorgerechts. “Voraussetzung für solche familiengerichtlichen Eingriffe ist die Gefährdung des Kindeswohls”, erklärt der Experte. Ob eine solche vorliege, lasse sich nur im Einzelfall entscheiden.
Insgesamt habe sich die Rechtsprechung in den vergangenen Jahren verändert: “Früher entschieden viele Gerichte: Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, dann besteht automatisch eine Kindeswohlgefährdung”, sagt Vogt. “Inzwischen haben die meisten Familienrichter eingesehen, dass sich die Formel nicht halten lässt. Denn auch außerhalb der Schule können Kinder Zugang zu Bildung erhalten und soziale Kontakte knüpfen.”
Wie aber lässt sich der Bildungsstand von Freilernern überprüfen und mit Schulgängern vergleichen? In Österreich etwa gilt Unterrichtsfreiheit; hier ist Homeschooling erlaubt. Zum Nachweis müssen die Kinder einmal pro Jahr eine sogenannte Externistenprüfung ablegen. “Auch im Ausland lernen unsere Kinder”, sagt Stahl. “Zum Beispiel, wie antike Gebäude aussahen, wie Städte entstanden.”
Feste soziale Kontakte sind für reisende Freilerner dagegen oft schwierig. Stahl und ihre Familie bleiben meistens nicht länger als einen Monat in einem Land. Mit einer anderen deutschen Freilerner-Familie und deren Kindern treffen sie sich auf Reisen immer wieder, sagt Stahl. “Unsere Mädchen haben feste Freundschaften geschlossen. Die Jungen aber leider noch nicht.”
Die rechtliche Situation ist schwierig: Stahls Ehemann behielt seinen Hauptwohnsitz im Erzgebirge, sein Arbeitgeber befindet sich in Deutschland. Die Mutter und ihre vier Kinder sind dagegen abgemeldet. Bleibt sie länger als drei Monate am Stück in Deutschland, ist sie gesetzlich verpflichtet, sich wieder anzumelden.