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Holocaust-Zeitzeuge erzählt seine Geschichte: “Das KZ war nebenan”

Dietrich Breuer aus Niedersachsen war noch ein Kind, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Die grausamen Erinnerungen prägen ihn bis heute. Er sagt: So etwas darf nie wieder geschehen.

Der jüdische Schneider Adam hat 1946 dem deutschen Jungen Dieter einen 		Anzug aus einer Wehrmachtsdecke genäht
Der jüdische Schneider Adam hat 1946 dem deutschen Jungen Dieter einen Anzug aus einer Wehrmachtsdecke genähtprivat

Die Nachrichten, die uns, die mich seit geraumer Zeit über das Ansteigen des Antisemitismus erreichen, erschüttern mich, machen mich traurig und lassen befürchten, dass sich die Dinge wieder zu menschenverachtenden Verhältnissen entwickeln, wie wir sie in Deutschland schon einmal hatten.

Erst kürzlich hatte ich in unserer Tageszeitung den Bericht über den Besuch des Holocaust-Überlebenden Albrecht Weinberg in einer Schule gelesen, der mit „Keiner hat uns geholfen“ überschrieben ist. Und heute, vor 80 Jahren wurde das KZ Auschwitz von der Roten Armee befreit.

Ich habe zwar die letzten Jahre des Nationalsozialismus in Deutschland nur als Kind erlebt, fühle mich mit meinen 88 Lebensjahren aber immer noch ein wenig als Zeitzeuge, der etwas über das weiter geben darf, soll, ja sogar muss, was er erlebt, empfunden hat und weiter fühlt und sich nie mehr wiederholen darf.

1933: Die Nationalsozialisten haben ab sofort freie Hand

Am 30. Januar 1933 wurde der Vorsitzender der NSDAP, Adolf Hitler, von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Bei den Wahlen zum Reichstag am 6. November 1932 verlor zwar die NSDAP 4,2 Prozent der Stimmen, aber die wahlberechtigte deutsche Bevölkerung hatte die Partei mit 33,1 Prozent ein weiteres Mal zur stärksten Fraktion im Reichstag gemacht. Am 27. Februar 1933 ging das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen auf und schon am 23. März trat das Ermächtigungsgesetz in Kraft.

Die Nationalsozialisten hatten ab sofort freie Hand, all ihre ideologischen und politischen Ideen und Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Wie diese aussahen, das hatte Adolf Hitler in seinem Buch Mein Kampf unmissverständlich zum Ausdruck gebracht und war in unzähligen Reden von Parteigenossen und durch Presseveröffentlichungen unter das Volk gebracht worden. Dazu gehörte auch die unmissverständliche Darstellung des Judenbildes, welches die Nationalsozialisten hatten. Schon am 9. November 1938 wurde deutlichst gezeigt, wie man mit den jüdischen Mitbewohnern umzugehen gedenkt.

Jüdische Grabsteine im Gestrüpp entdeckt

Bei einem Spaziergang im Wiedbachtal vor gut 40 Jahren entdeckte ich im Gestrüpp jüdische Gräber und Grabsteine. Ich sprach meine Wirtin darauf an und sie erzählte mir, dass sie als Schulkinder am 9. November 1938 an der noch brennenden Ruine der Synagoge Lieder singen mussten.

Inzwischen habe ich erfahren, dass der Judenfriedhof sich wieder in einem würdigen Zustand befindet. Meine Großmutter väterlicherseits, Witwe mit sechs Kindern, tritt in die Partei ein. Das genaue Datum ist mir nicht bekannt. Breuer-Opa, ihr Mann, war als Pferdekutscher auf dem von Richthofen-Gut in Kuhnern bei der Arbeit ums Leben gekommen.

SA-Offizier: „Und jetzt gehören Ihre Kinder uns!“

Ich bin am 17. April 1936 in Gutschdorf, Kreis Schweidnitz in der Dorfstraße 87 auf die Welt gekommen und überlebte. Zwei ältere Geschwister waren bereits als Säuglinge gestorben. Als mein Vater Ende August 1939 in den Krieg ziehen musste, war ich 3 1/2 Jahre alt. Ende März 1942 übergab der Briefträger draußen im Hof unserer Mutter eine Nachricht und als sie weinend in die Stube kam sagte sie: „Wir haben keinen Vat’l mehr. Er ist gefallen! Er kommt nicht mehr heim.“ Ich kannte meinen Vater nur von wenigen Erlebnissen, denn er war ja schon seit drei Jahren im Krieg. In Polen, in Belgien, in Frankreich, in Brest-Litowsk, Minsk, Smolensk, Charkow. Es gibt ein Foto, auf dem ich mit ihm abgebildet bin. Er hatte wohl Fronturlaub, denn er trägt seine Wehrmachtsuniform. Ich besuchte mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Marianne die Spielschule, wie in Niederschlesien der Kindergarten genannt wurde.

An einem Tag, nachdem wir die Todesnachricht erhalten hatten, holte uns unsere Mutter persönlich von der Spielschule ab. Auf dem Heimweg, der vielleicht 400 Meter lang war, kam uns der Leiter der Schule im Mitteldorf entgegen. Er trug eine SA-Uniform. Er reichte unserer Mutter die Hand und sprach ihr das Beileid zum Tod ihres Mannes aus. Dann sagte er zu ihr: „Und jetzt gehören Ihre Kinder uns!“ Die Antwort meiner Mutter habe ich heute noch im Ohr: „Woas? Sie Oaschluch! Doas sein meine Kinder und doas bleiba se.“

KZ Groß-Rosen: Plötzlich knallte es und er fiel tot um

Ostern wurde ich eingeschult. Als ich am 17. April meinen Geburtstag beging, freute ich mich, wie schon die Jahre vorher, dass sie im Dorf damit anfingen, die Häuser mit Fahnen zu schmücken. Auch an unserem Fabrikhaus, in dem wir eine vielleicht 35 qm große Wohnung hatten, hing zur Straße hin eine Hakenkreuzfahne. 2 km in Richtung Westen lag Groß-Rosen, das Kirchdorf für uns wenigen Katholiken im evangelischen Gutschdorf mit der Zuckersiederei Gutschdorf, die 1860 von vier von Richthofen-Brüdern gegründet worden war. Die Gutschdorfer waren stolz darauf, dass auch Manfred von Richthofen einmal zu einer Versammlung der Teilhaber im Dorf war. Meine Eltern hatten meinem vor mir und verstorbenen Bruder den Namen Manfred gegeben und auch ein nach mir geborenes Brüderchen hieß wieder Manfred. Er wurde nur 1 Jahr alt. Von unserer Wohnung aus konnte man die Kirchtürme der katholischen und den höheren der evangelischen Kirche sehen. Ich musste 1944/45 jede Woche einmal zu Pfarrer Schneider zum Erstkommunionunterricht nach Groß Rosen gehen, denn am Weißen Sonntag, am 8. April 1945, sollte ich zur Erstkommunion gehen.

Nicht nur zum Baden im stillgelegten Steinbruch hielten wir Jungen uns im Sommer auf dem Kle-Rusner – Klein-Rosener – auf. Von dem Hügel am Fuße des Gansberges aus konnte man den Kuhberg sehen, wo sich das KZ befand. 1940 was es als Arbeitslager angelegt worden und unterstand dem KZ-Sachsenhausen. Am 1. Mai 1941 wurde es das eigenständige KZ Groß Rosen. Die Insassen mussten weiter im Steinbruch arbeiten, welchen die SS-eigene Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DESt) erworben hatte. Die DESt unterstand Heinrich Himmler. Für das KZ Groß-Rosen galt das hitlersche Motto „Vernichtung durch Arbeit“. Meine Mutter war einmal mit dem Fahrrad zu Besuch bei ihrer Schwester im 8 km entfernten Jauer. Als sie wieder zu Hause ankam, war sie völlig durcheinander und verstört. Sie war am Steinbruch vorbei gefahren, als vor ihr ein Häftling über die Straße rannte. Plötzlich knallte es und er fiel vor ihren Augen tot um. Es war einer von 40.000, die in dem KZ ihr Leben lassen mussten.

Polizist schlug wie besessen auf den Schädel des Häftlings ein

In Schlesien waren viele Straßen mit Obstbäumen bepflanzt. An der Straße, die Striegau mit Jauer verbindet, standen in unserem Bereich Kirchbäume. Es war das Jahr 1944. Die Kirschen waren reif und die Leute konnten sich auf dem Bürgermeisteramt eine Pflückerlaubnis oder einen Pflückschein holen und durften unter Aufsicht und Kontrolle Kirschen pflücken. Auch ich war mit Onkel (Langer)-Ewald Kirschen pflückten. Der Dorfpolizist, der im Krieg bereits eine Hand verloren hatte und eine eiserne Prothese trug, regelte auch den Verkehr, weil die Pflücker die Leitern auch auf der Straße stehen hatten. Er stoppte einen aus Richtung Striegau kommenden LKW, unter dessen Plane KZ-Häftlinge saßen. Ich stand genau am Ende des angehaltenen LKW. Ein KZler, wie die Häftlinge genannt wurden, griff sich einen Ast und pflückte sich Kirschen, die er und seine Mitgefangenen aßen. Als der Ast brach, hörte das der Polizist. Er kam sofort angelaufen und befahl dem Häftling, abzusteigen. Er nahm den Ast in seine gesunde Hand und schlug wie besessen mit dem dicken Ende auf den Schädel des Häftlings ein, dass nicht nur ich glaubte, dieser würde gleich umfallen. Dann durften sie weiterfahren. Diese Szene ist bei mir bis heute in meiner Erinnerung lebendig geblieben.

Gutschdorf, Kreis Schweidnitz, Dorfstraße: Auf dieser Straße schleppten sich im Januar 1945 die KZ-Häftlinge – es waren nur Frauen – in Richtung KZ Groß-Rosen
Gutschdorf, Kreis Schweidnitz, Dorfstraße: Auf dieser Straße schleppten sich im Januar 1945 die KZ-Häftlinge – es waren nur Frauen – in Richtung KZ Groß-Rosenprivat

1944 war in Groß Rosen ein Parteitag. Auch Breuer-Oma stand mit dem Mutterkreuz und dem Parteiabzeichen geschmückt im ersten Glied, als der Kreis- oder Gauleiter die Front abschritt. Er blieb vor meiner Großmutter stehen, gab ihr die Hand und gratulierte ihr, dass sie nun schon den dritten Sohn Führer und Vaterland opfern durfte. Onkel Paul war 1939, mein Vater im März 1942 und Onkel Bernhard im November 1943 gefallen. ( Im November 1942 hatte auch mein Cousin Günter Stumpe als Leutnant und Kompanieführer im Alter von 21 Jahren am Ilmensee den Heldentod gefunden. So steht es in der Todesanzeige, die ich noch besitze.)

Oma riss sich das Parteiabzeichen und das Mutterkreuz vom Hals und warf beides dem Parteiführer vor die Füße. Alle Anwesenden erstarrten. Breuer-Oma wohnte in der Rosen-Villa im Dachgeschoß. Als sie in ihre Wohnung zurück gekommen war, nahm sie das Hitler-Bild von der Wand und warf es aus dem Fenster. Man wunderte sich, dass ihr nichts passierte. Onkel Martin, der jüngste und noch lebende Bruder meines Vaters hat Urlaub.

Nach der Schule gehe ich immer zu meiner Oma zum Mittagessen. Stolz zeige ich Onkel Martin meine bereits gut mit Tabak gefüllte Zigarrenkiste. Ich sammelte stets Kippen. Was machst du damit, will er wissen? Ich bringe sie den Gefangenen im Lager an der Zuckerfabrik und da bekomme ich von ihnen geschnitztes Spielzeug. Onkel Martin, der auf fast allen Fotos, auf denen er zu sehen ist am linken Arm eine Hakenkreuzbinde trägt, nimmt mir die Zigarrenschachtel aus der Hand, öffnet die Herdplatte und kippt den Tabak ins Feuer. Ich höre nicht mehr auf zu weinen, bis er aus einem Regal zwei Päckchen Machorka nimmt, sie aufreißt und den Tabak in meine Kiste schüttet. Hör endlich auf zu Heulen, sagt er dazu. Das tue ich und bringe den Tabak gleich zu den Gefangenen und bekomme tatsächlich ein Brettchen mit Hühnern, die picken, wenn ich das Gewicht an den Schnüren im Kreise schwingen lasse. Welche Freude!

Häftlinge warfen die leblos wirkenden Körper auf die Ladefläche

Im Januar 1945 liegt Schnee und es ist bitter kalt. Die geschlossenen hölzernen Läden vor den Fenstern zu unserem Schlafraum können das merkwürdige Geräusch nicht abhalten, dass von draußen, von der unmittelbar am Haus vorbeiführenden Dorfstraße zu hören ist. Unsere Mutter ist schon aufgestanden. Marianne, meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich, wir wollen den Fensterladen öffnen, um zu sehen, was da los ist. Mut’l erlaubt es nicht. Wir stehen trotzdem auf, ziehen uns was an und gehen in die Küche. Auf der Straße ziehen Frauen in Sträflingskleidung in Richtung Groß Rosen. Einige ziehen einen aus Brettern gezimmerten Schlitten hinter sich her. Auf diesem liegen Häftlinge in mehreren Lagen gestapelt. Es sind tote Menschen. Die Köpfe und Füße der untersten Lage schlürfen über die Schnee bedeckte Straße. Immer wieder ist eine Frau in schwarzer Uniform mit einem Gewehr oder einer Maschinenpistole zu sehen, die wohl Anweisungen gibt. Unsere Mutter nimmt den Wassereimer und geht nach draußen, um an der Plumpe (Pumpe) Wasser zu holen. Sie kommt aber unverrichteter Dinge wieder herein, nimmt ein Brot aus dem Brotschrank und ein Messer in die Hand und sagt: Die wullda Wosser hon. Ich koan dan doch bei dar Kälde ke Wosser nie gan. Dann geht sie mit dem Brot in der Hand wieder nach draußen. Plötzlich ein Bersten des hölzernen Hoftores und unsere Mutter verschwindet unter einem Pulk von wohl 15 bis 20 Häftlingsfrauen.

Marianne und ich, wir erschrecken und geraten in Panik. Schwarz-uniformierte Frauen mit Waffen in den Händen kommen und treiben die Häftlingsfrauen wieder auf die Straße. Unsere Mutter kommt völlig aufgelöst in die Stube zurück und sagt nur: Wenn die – die Häftlingsfrauen – das Messer nicht wieder rausgerückt hätten, dann hätten sie mich mit auf den Kuhberg (KZ) genommen. Auch am nächsten oder übernächsten Morgen zog wieder eine Kolonne von Häftlingen vorbei. Es waren wieder Frauen und irgendwie wussten auch wir Kinder, dass es Judenfrauen waren. Woher wir das wussten, das kann ich heute nicht mehr sagen. Immer wieder fiel eine um und blieb am Straßenrand im Schnee liegen. Ein paar größere Jungen gingen die Straße entlang. Sie hatten Knüppel in den Händen und kontrollierten wohl, ob die da liegenden Personen noch lebten. Später fuhr ein LKW die Strecke entlang gefahren. Häftlinge warfen die leblos wirkenden Körper auf die Ladefläche.

Flucht in den bayrischen Wald

Am 11. Februar 1945 kam die Anweisung, dass Gutschdorf sofort evakuiert werden muss. Der Russen hätte die Oder überschritten und müsse zurückgeschlagen werden. Gutschdorf werde Kampfgebiet sein. Am nächsten Tag wurden wir in Güterwaggons verladen, die im Fabrikgelände bereitgestellt worden waren. Am Nachmittag kam endlich eine Lokomotive, die den Zug in Richtung Osten aus dem Dorf zog. Ein russischer Panzer, der aus Richtung Groß Rosen kam, schoss noch in den letzten, nur mit Zucker beladen Waggon. Nach vier Wochen Aufenthalt in Hauptmannsdorf bei Braunau im Sudentenland, kamen wir am 21. März in Cham im Bayrischen Wald an. Den vielen Familien aus Gutschdorf wurden in den Dörfern des Landkreises Unterkünfte zugewiesen.

Wir bekamen in dem knapp 100 Einwohner zählenden Beutelsbach bei Familie Alt zwei kleine Räume von zusammen vielleicht 40 qm zugewiesen. Wir waren inzwischen acht Personen, denn meine Mutter hatte in Braunau zufällig Breuer-Oma und Tante Gertrud mit ihren drei Kindern eingesammelt, die nicht rechtzeitig mit dem Zug Gutschdorf verlassen hatten. Auch Familie Schwarzer mit ihren drei Kindern und eine Frau Leder kam in Beutelsbach unter.

Agnes Gonda, die die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat, zu Besuch beim Verfassen dieser Erinnerungen
Agnes Gonda, die die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat, zu Besuch beim Verfassen dieser Erinnerungenprivat

Schon knapp zwei Wochen später, am 8. April 1945 war Weißer Sonntag und auch ich ging mit den anderen Kindern in meinem Alter in Grafenkirchen zu 1. Heiligen Kommunion. Alle Kinder waren festlich gekleidet. Die Mädchen weiß und die Jungen hatten meist neue, dunkle Anzüge mit langer Hose geschneidert bekommen. Ich musste den hellgrau karierten Anzug mit kurzer Hose anziehen, weil uns in Braunau auf dem Bahnhof unser Handwagen mit unserer ganzen Habe gestohlen worden war. Am 17. April, an meinem 9. Geburtstag wurde das ca. 25 km süd-westlich liegende Schwandorf bombardiert und am 18. April der Bahnhof in Cham, auf dem wir vor vier Wochen ausgeladen worden waren. Die Amerikaner haben unser Beutelsbach erst gefunden, nachdem eine ängstliche Frau sie um Hilfe geholt hatte. Die Bauern hatten nämlich alle Wegweiser, die nach Beutelsbach zeigten, abgebaut. Ins Dorf führten nur Feld- und Waldwege.

Dem Juden Adam heute noch dankbar

Eines Tages kommt meine Mutter von Familie Schwarzer, die im Bangerl-Häusl wohnten, zurück. Diese hatten Besuch von einer Gutschdorfer Familie, die in einem Nachbardorf wohnte, dessen Namen ich vergessen habe. Meine Mutter ist völlig entsetzt. Stellt euch vor, sagte sie wohl mehr zu ihrer Schwiegermutter und zu ihrer Schwägerin, der Reinschlüssel war doch tatsächlich stolz auf seine Jungen, dass sie die Judenfrauen, die im Januar an der Straße lagen und noch nicht ganz tot waren, mit ihren Knüppeln erschlagen haben. Mir pinkelten die Zwillingsbrüder, die jetzt im Kirschbaum über mir auf einem Ast Kirschen pflückten, auf den Kopf und ich getraute mich nicht, mich zur Wehr zu setzen.

Das kinderlose Ehepaar Gretel und Max Tischer aus Gutschdorf, das im Nachbardorf Pempfling unter gekommen war, meinte meiner Mutter gegenüber, dass sie einen Schneider kennen würden, der mir sicher einen Anzug nähen würde, wenn sie vielleicht eine Wehrmachtsdecke auftreiben könnte. Ich weiß nicht, wo meine Mutter die Decke her bekam, aber Schneider Adam, ein Jude, nähte Dieter, dem deutschen Jungen einen Anzug. Ich konnte es selbst als 10Jähriger nicht fassen, fühlte mich so etwas wie unwürdig und beschämt, dass mir deutschem Jungen ein Jude einen Anzug näht. Leider habe ich nie etwas Näheres über den Juden Adam in Erfahrung bringen können. Ich weiß auch nicht, ob er mit Vor- oder Nachnamen Adam hieß. Ich bin ihm heute noch dankbar.

KZ Groß-Rosen wird bei uns in Deutschland vergessen

1956 wurde ich Soldat der Bundeswehr. Ich war noch keine 21 Jahre alt und brauchte deswegen das Einverständnis meiner Mutter. Das verweigerte sie mir zunächst. Sie meinte, Soldaten bedeuten Krieg und ich solle nicht vergessen, dass mein Vater und seine drei Brüder, alle vier Breuer-Söhne, im Krieg geblieben sind und dazu mein Cousin Günther und wir die Heimat verloren hätten. Ich hatte mich nicht zur Bundeswehr beworben, weil ich an einer Wiederbewaffnung teilhaben wollte, sondern glaubte, einen Verteidigungsbeitrag leisten zu müssen. Schließlich erhielt ich doch noch Mutters Einverständnis und trat am 15. Juni 1956 meinen Dienst als Panzergrenadier in Munster-Lager an. Ich war von Anfang an in die Militärseelsorge eingebunden.

1958 wurde zur 1. Internationalen Soldatenwallfahrt nach Lourdes eingeladen. Ich hatte mich zur Teilnahme gemeldet und den erforderlichen Sonderurlaub beantragt. Zum ersten Mal nach dem 2. Weltkrieg betraten deutsche Soldaten in Uniform wieder Frankreich. Unser Sonderzug wurde in Kehl am Rhein gestoppt. Wir mussten uns erst in Zivil umkleiden, sonst hätten wir nicht einreisen dürfen. In Lourdes waren wir wohl um die 700 deutschen Soldaten in einem Zeltlager von etwa 30.000 Soldaten untergebracht. Bei der Vorbesprechung des Programms wurde erwähnt, dass die Nationen am Freitag den Kreuzweg gehen würden und vor jeder Nation an der Spitze ein Kreuz getragen werden müsste. Ich sicherte mir sofort das Kreuz mit der inneren Haltung, dass ich es stellvertretend für alle Deutschen trage, die anderen Völkern, besonders den Juden, Leid zugefügt haben. Man wollte mich auf dem Kreuzweg immer wieder ablösen, aber ich habe das Kreuz nicht hergegeben. Ein Hauptmann durfte mir lediglich das Kreuz tragen helfen. War das ein Fest, als anschließend französische Soldaten mit mir die Kopfbedeckung austauschten!

Als Vorgesetzter bei der Bundeswehr, als Fremdenführer von Besuchergruppen in Munster, mit Jugendgruppen und als Vater unserer fünf Kinder und Großvater von neun Enkelkindern besuchte ich immer wieder die Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Nachbarschaft von Munster. Ich versuchte stets, die Erinnerungen an die Schrecken und Gräuel des Nationalsozialismus wachzuhalten, weil sie sich nicht wiederholen dürfen. Ich bin aber auch immer wieder überrascht, wie sehr das KZ Groß-Rosen bei uns in Deutschland vergessen wurde und wird. Auch wenn die Gedenkstätte heute zu Polen gehört, bleibt es ein deutsches Konzentrationslager.

Tief bedrückt vom Krieg im Nahen Osten

1994 blickte die Stadt Stade auf 1000 Jahre ihrer Geschichte zurück. Im selben Jahr ist Munster Ausrichterstadt des Tages der Niedersachsen. Ich bin mit einer Kollegin der Stadtverwaltung, bei der ich beschäftigt bin, mit einem Informationsstand in Stade dabei. Bei einem Rundgang über den Marktplatz treffe ich auf den Stand der israelischen Partnerstadt (Givat Smuel) von Stade. Ich komme mit den jungen Leuten ins Gespräch und erzähle ihnen auch von meinen Erlebnissen in meiner Kindheit in unmittelbarer Nachbarschaft zum KZ Groß-Rosen. Sie nehmen einen kleinen Wimpel mit dem Davidstern von der Wand ihres Standes und schenken ihn mir. Voller Stolz und Freude diesen Wimpel schenkend gehe ich durch die Menschenmenge zu meinem Stand zurück. Das können die jungen Israelis nicht fassen, dass so etwas in Deutschland möglich ist. Am 7. Oktober 2023 habe ich diesen Wimpel in mein Wohnzimmerfenster gehängt. Immer wieder werde ich ermuntert, ihn aus dem Fenster zu nehmen. Mich bedrückt der Krieg im Nahen Osten ebenfalls zutiefst!

1995 wurde in der Gedenkstätte KZ Bergen-Belsen der Befreiung des Lagers vor 50 Jahren durch die Britischen Streitkräfte gedacht. Dazu wurden auch die Überlebenden eingeladen. Unter ihnen befand sich Agnes Gonda. Nachdem die Wehrmacht 1941 den Balkan besetzt hatte, wurde das in Belgrad lebende 19 Jahre alte jüdische Mädchen Agnes mit anderen Juden in das KZ Auschwitz gebracht. Im Januar 1945 wurde sie, zusammen mit vielen anderen Lagerinsassen in das KZ Bergen-Belsen verlegt und überlebte. Sie wanderte später nach Israel aus und wohnte in Naharya. Bei ihrem Besuch in Deutschland betreute sie ein Freund unserer Familie, der Agnes Gonda bei seinem Aufenthalt in einem Kibuz kennengelernt hatte. So hatten wir die Ehre und Freude, Agnes bei uns in Munster in unserer Wohnung zu Gast begrüßen zu dürfen (Foto 3). Als meine Frau und ich 2000 Israel besuchten, war ein Treffen in Jerusalem geplant, das aber aus gesundheitlichen Gründen von Agnes nicht mehr stattfinden konnte. Sie ist bald danach verstorben.

Haben wir wirklich nichts aus unserer Geschichte gelernt?

1981 konnte ich zum ersten Mal nach Flucht und Vertreibung wieder meine Geburtsheimat besuchen. Tante Anna, die verwitwete Schwägerin meiner Mutter hatte die polnische Staatsangehörigkeit angenommen und lebte noch mit ihren beiden Kindern in unserem Nachbardorf. Sie begleiteten mich auf den Wegen meiner Kindheit und natürlich auch in das Museum KZ Groß Rosen. Mich hatte ein Fenster im ehemaligen Wachgenäude beeindruckt, das von einem polnischen Künstler geschaffen worden war. Während der Vorbereitungen der 2. Internationalen Ausstellung Glasplastik und Garten im Jahr 1998 traf ich mit dem Breslauer Künstler Kazimierz Pawlak zusammen und erzählte, wie sehr mich dieses Fenster in Groß Rosen beeindruckt. Dabei stellte sich heraus, dass er dieses Kunstwerk geschaffen hat. Wir wurden Freunde und inzwischen ziert eine Arbeit von ihm auch meine Wohnung.

In den 90er Jahren war ich von der Stadt Polch im Landkreis Mayen, Rheinland-Pfalz gebeten worden, in die Ausstellung des Künstlers W. Platizin aus Mitschurinsk in Russland einzuführen. Ich kannte den Künstler und war mit ihm befreundet. Er hatte mich wohl als Kenner seiner Arbeiten als Redner vorgeschlagen. Als ich in Polch angekommen war, musste ich feststellen, dass die Ausstellung in einer Synagoge gezeigt und eröffnet wird. Ich soll also in einer Synagoge sprechen. Ich brach förmlich zusammen und all das, was danach geschah, war ein überwältigendes Erlebnis für mich. Die Synagoge war in der Reichskristallnacht von SA-Männern in Brand gesteckt worden, musste anschließend an die Kommune verkauft werden und wurde als Speicher genutzt. Anfang der 80er Jahre wurde sie restauriert und wird seit dem für kulturelle Zwecke genutzt.

Mich bedrückt es zutiefst, dass Antisemitismus wieder um sich greift. Ich bin nicht nur Zeuge einiger schlimmer Gräueltaten an Juden, sondern weiß auch, wie schnell Kinder und junge Menschen verführt werden können. Für uns 7, 8 Jährige gab es nichts Interessanteres, als einmal die Woche auf der Wiese hinter dem neuen Friedhof der Hitlerjugend beim Dienst und bei den Geländespielen zuzusehen. Wir sehnten uns nach dem 10. Geburtstag, damit wir endlich Pimpfe in der HJ werden konnten. Haben wir wirklich nichts aus unserer Geschichte gelernt?

Wehret den Anfängen!