Er wurde vom Maoisten zum Osteuropa- und Russland-Experten. Moskau, die Sowjetunion, die Ukraine und Stalins Terrorregime sind die zentralen Themen des Historikers Karl Schlögel (76). Seit Jahrzehnten will er dem Publikum den Osten Europas näherbringen. Ausgerechnet in einer Zeit, wo Schlögels Wissen über die Ukraine und Russland öffentlich stark nachgefragt wird, hat der Historiker mit “American Matrix” (2023) ein Buch über die zweite Supermacht des 20. Jahrhunderts, die USA, geschrieben.
Am Dienstag erhielt Schlögel den mit 100.000 Euro dotierten Preis der Gerda-Henkel-Stiftung zugesprochen. Schlögel zeige “auf eindrückliche Weise, dass historische Urteilskraft und stetige kritische Selbstreflexion unerlässlich sind, wenn wir die Konflikte der Gegenwart angemessen verstehen wollen”, hieß es zur Begründung.
Der Historiker hat einen besonderen Blick auf sein Fach: In seinem 2020 erschienenen Buch “Der Durft der Imperien: Chanel No 5 und Rotes Moskau” erzählt er anhand von zwei Parfums die europäischen Abgründe des 20. Jahrhunderts. In “Matrix” zeigt er, dass Geschichte nicht nur in der Zeit spielt, sondern auch von der Größe und Beschaffenheit des Raumes gestaltet wird.
Schlögel kam 1948 als zweites von sechs Kindern eines Landwirtsehepaars in Hawangen im Allgäu zur Welt. Er besuchte das Benediktinergymnasien im Kloster Ottobeuren und im Kloster Scheyern und studierte an der FU Berlin Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Während seines Studiums engagierte er sich in verschiedenen kommunistischen Organisationen. 1981 schloss er eine Dissertation über Arbeiterkonflikte in der Sowjetunion nach Stalin ab. 1982 ging Schlögel als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) an die Lomonossow-Universität Moskau, wo er sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der russischen Intelligenzija im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte.
Nach seiner Rückkehr arbeitete der Historiker als Privatgelehrter, Übersetzer und freier Autor für den Rundfunk. Er schrieb auch für verschiedene Zeitungen, darunter den “Rheinischen Merkur”, den “Tagesspiegel”, die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” und “Die Zeit”. 1990 wurde er auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz berufen. 1995 wechselte er an die Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wo er bis 2013 lehrte.
Einem breiten Publikum wurde er durch das Buch “Terror und Traum. Moskau 1937” (2008) bekannt. 1985 griff er mit seinem Essay “Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa” in die Debatte über die Veränderungen in Zentraleuropa ein. Schlögel porträtierte auch bedeutende Städte: 1988 erschien “Jenseits des Großen Oktober. Petersburg 1909-1921. Laboratorium der Moderne”. 1998 analysierte er “Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas”. 2015 erschien “Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen”. Für sein Werk “Das sowjetische Jahrhundert” (2017) erhielt er 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse.