Für den Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer steckt die deutsche Erinnerungskultur in der Krise. „Angriffe der extremen Rechten auf die etablierten Gedenkstätten, wachsender Antisemitismus und Rassismus sind deutliche Zeichen“, sagt der Kolonialismusforscher von der Universität Hamburg dem Evangelischen Pressedienst (epd). Bisherige Versuche, eine modernisierte, an die Bedürfnisse der Migrationsgesellschaft angepasste Erinnerungskultur zu etablieren, seien gescheitert. Der neue Kulturstaatsminister Wolfram Weimer (parteilos) stehe für einen konservativen Kurs. Er will noch im Herbst ein neues Gedenkstättenkonzept vorlegen. Zimmerer erwartet einen „konservativen Kulturkampf“.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk hatte Weimer bereits angekündigt, den Holocaust zum Ankerpunkt des Erinnerungskonzepts zu machen. „Das ist an sich selbstverständlich, sollte aber andere Verbrechen nicht ausschließen“, sagt der Historiker. Ihn beunruhige, dass Weimer der Erinnerung an den Kolonialismus eine deutliche Absage erteilt habe. So wandte sich der Kulturstaatsminister gegen eine „Vermengung von Kolonialismus und Holocaust“ und erklärte, eine Relativierung des letzteren dürfe es nicht geben. „Selbstverständlich darf der Holocaust nicht relativiert werden. Wenn das jemand will, dann sind es extreme Rechte“, betonte Zimmerer.
„Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die die singulären Elemente des Holocaust anerkennt, ohne koloniale Menschheitsverbrechen zu relativieren“, fordert der 60-Jährige. Neben den Bereichen NS-Verbrechen und DDR-Unrecht müsse auch Kolonialismus einen Platz im staatlichen Erinnerungskonzept erhalten. Zimmerer wünscht sich eine breite Debatte in der Gesellschaft, an der alle Interessierten und Betroffenen umfassend beteiligt werden. Es sei wichtig, auch an den Völkermord in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) zu erinnern.
Der neue Kulturstaatsminister Weimer habe dagegen schon in der Vergangenheit „eine grundsätzlich positivere Betrachtung des Kolonialismus“ gefordert und würde dies nun in seiner Arbeit als Kulturstaatsminister vorbereiten, glaubt Zimmerer. Damit würden die Opfer des Kolonialismus zu Opfern zweiter Klasse degradiert. Dies betreffe vor allem den Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, das zwischen 1884 und 1915 deutsche Kolonie war. Zimmerer: „Im ersten Genozid der deutschen Geschichte wurden bis zu 80.000 Herero und Nama ermordet.“ Wenn Weimer das Thema Kolonialismus aus dem Gedenkstättenkonzept komplett streichen sollte, wäre das „für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes fatal“.
Allen Beteuerungen der Abgrenzung zum Trotz komme Weimer damit Forderungen der AfD weit entgegen. „Die AfD wettert seit langem gegen die Aufarbeitung kolonialer Verbrechen“, sagt Zimmerer. Er bedauert, dass andere Parteien diesem Druck zu wenig entgegensetzten. So habe der Hamburger Senat die Förderung der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ 2024 eingestellt. „Die AfD jubelte im Rathaus, schrieb sich diesen Erfolg auf die Fahnen“, sagt der Historiker. Zimmerer hatte die unabhängige Forschungsstelle seit 2014 geleitet, künftig sei die Forschungsarbeit an der Universität Hamburg angedockt.