Artikel teilen:

Heinrich Grüber: Ein standhafter Kirchenmann

Heinrich Grüber half evangelischen Christinnen und Christen jüdischer Herkunft bei der Ausreise aus Nazideutschland. Das brachte ihm selbst Haft ein.

Propst Heinrich Grüber, 1954, auf dem 7. Parteitag der CDU (Ost) in Weimar
Propst Heinrich Grüber, 1954, auf dem 7. Parteitag der CDU (Ost) in WeimarBundesarchiv, Bild 183-26539-0001 / Wlocka / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0

Heinrich Grüber gehört zu den ­herausragenden Persönlichkeiten im deutschen Protestantismus des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Namen verbindet sich an erster Stelle das „Büro Pfarrer Grüber“ (1938-1940), die von der Bekennenden Kirche begründete Auswanderungshilfe für evangelische Christen jüdischer Herkunft. Diese leitete er zwei Jahre lang von Dezember 1938 bis zu deren Verbot im Dezember 1940. Grüber bekleidete zeitlebens eine kaum überschaubare Vielzahl von Ämtern und Positionen: Er war Pfarrer, leitete diakonische Einrichtungen der Jugendfürsorge und engagierte sich in der Verfolgtenhilfe während der NS-Zeit. Nach dem Krieg Nach dem Krieg setzte Propst Grüber sein Engagement mit der Gründung der „Evangelischen Hilfsstelle für ehemals Rasseverfolgte“ in Berlin fort. 1961 trat er im Eichmann-Prozess in Jerusalem als einer der wenigen Zeugen auf, die Adolf Eichmann persönlich begegnet waren. 1964 wurde er als „Gerechter unter den Völkern“ durch den Staat Israel geehrt. Zudem amtierte er als Propst zu Berlin und Mitglied der regionalen Kirchenleitung. Schließlich vertrat er als Bevollmächtigter der EKD von 1949 bis 1958 kirchliche Interessen und Anliegen gegenüber der kommunistischen Regierung der DDR.

Deutschnational, später kritisch gegenüber den Nazis

Geboren 1891 in Stolberg bei ­Aachen, kam Grüber als Direktor des Evangelischen Erziehungsheims Waldhof bei Templin im Jahr 1926 nach Brandenburg und Berlin. Unbekannt war ihm die Region nicht: Er hatte zeitweilig in Berlin studiert und bereitete sich 1918 bis 1920 im Domkandidatenstift Berlin auf das Pfarramt vor. Wie so viele seiner Pfarrerkollegen war Grüber zur Weimarer Zeit politisch deutsch­national eingestellt und gehörte dem Wehrverband Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten an.

Den Umbruch 1933 begrüßte er zunächst. Zugleich sollte jenes Jahr für ihn jedoch ein konfliktreiches, schwieriges Jahr werden. Viele ­Indizien deuten darauf hin, dass Grüber anfangs der nationalsozialistischen Partei NSDAP angehörte. Er selbst erwähnt diesen Sachverhalt in seinen Erinnerungen (1968) allerdings nicht. Nach dem 30. Januar, so berichtet er, schlossen sich viele Lehrer und Erzieher des Waldhofs der Hitlerpartei an und seien in ihren Forderungen immer an­maßender geworden. Grübers Konflikte mit der Partei häuften sich. Zum 1. August 1933 kündigte ihm der Vorstand des Heims. Grüber ­bewarb sich auf über 30 vakante Pfarrstellen, aber längere Zeit ohne Erfolg. Eine Chance eröffnete sich ihm in der kleinen Vorortgemeinde Kaulsdorf im Osten Berlins. Sie unterstand dem Patronat des Domkirchenkollegiums der Domgemeinde. Wie fast überall in der Reichshauptstadt, so regierten auch in Kaulsdorf nach den Kirchenwahlen vom 23. Juli 1933 die Deutschen Christen (DC). Grüber bewarb sich dort und setzte sich gegen heftigsten Widerstand der DC und örtlicher Parteivertreter durch. Als Vorsitzender des Gemeindekirchenrats musste er sich gegen eine aggressive DC-Mehrheit behaupten.

Bei der Gestapo angeschwärzt

Gottesdienstbesucher denunzierten ihn bei der Gestapo wegen Kritik an inhumaner NS-Gesundheitspolitik (Eugenik) und kritischer Äußerungen zur Judenpolitik. Gleichwohl gelang es unter seiner Leitung, eine wachsende Bekenntnisgruppe aufzubauen. Grüber erhielt am 22. Dezember 1934 die „Rote Karte“ als Ausweis der Kaulsdorfer Gruppe der Bekennenden Kirche (BK). Sie dürfte im Laufe der Jahre eine ­Stärke von 200 bis 300 Mitgliedern erreicht haben, was viel war im DC-beherrschten Berliner Osten.

Prominentester Gegner war Superintendent Johannes Schleuning, ein fanatischer DC-Theologe, der 1937 eine krass antisemitische ­Lobeshymne auf Julius Streichers antisemitische Wochenzeitung „Der Stürmer“ publizierte. Der Publizist und Politiker Streicher (1885–1946) war NSDAP-Gauleiter von Franken. Er gründete das Hetzblatt in Nürnberg und gab es heraus. Grüber behauptete sich gegen ­dessen Verehrer Superintendent Schleuning.

Während sich zu seinen Gottesdiensten im Jahr 1938 300 bis 400 Besucher einfanden, zerfiel die DC-Gruppe zusehends. Zu ihren separaten Gottesdiensten kamen nur noch 16 bis 18 Besucher. Pfarrer Grüber setzte sich gegen hässliche Widerstände in einem kirchenpolitisch äußerst schwierigen Umfeld mit überzeugender Bekenntnisarbeit durch.

Schaut man auf die Berliner ­Kirchenopposition insgesamt, so gehörte Grüber lange Zeit nicht zu den Frontmännern des Kirchenkampfes wie Martin Niemöller in Dahlem, Superintendent Martin Albertz in Spandau oder BK-Präses Gerhard Jacobi an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Das änderte sich schlagartig im Jahr 1938, als Grüber durch erneute Initiative von Albertz und dem Heidelberger Pfarrer Hermann Maas mit dem Aufbau einer Hilfsstelle für evangelische „Nichtarier“ beauftragt wurde. Mit der ihm eigenen Energie, organisatorischem Geschick und seinen vielfältigen Verbindungen nahm Grüber die Dinge in die Hand.

Hilfsstelle startete in Pfarrhaus

Die Anfänge des künftigen „Büro Pfarrer Grüber“ lagen im Herbst 1938 im Kaulsdorfer Pfarrhaus. Im Dezember 1938, wenige Wochen nach den Novemberpogromen, konnten erste Büroräume im Haus der britischen Missionsgesellschaft „Hebrew Christian Testimony to ­Israel“ in der Oranienburger Straße 20 in Berlin-Mitte genutzt werden. Der Andrang Hilfesuchender nahm rasch zu, sodass wesentliche Abteilungen, besonders die Auswanderungshilfe, im Januar 1939 in größere Räume „An der Stechbahn“ am Berliner Schloss umziehen mussten.

Sämtliche Hilfstätigkeiten des Büros geschahen mit Duldung staatlicher Stellen, da die forcierte Auswanderung von „Nichtariern“, die faktisch einer Vertreibung glich, zu jener Zeit durchaus im staat­lichen Interesse lag. Präzise Zahlen über die durch das Büro vermittelten Auswanderungen sind nicht vorhanden. Nach Schätzungen dürfte deren Umfang bei 1 700 bis 2 000 Personen gelegen haben.

Am 19. Dezember 1940 schloss die Gestapo das Büro. Sämtliche Mitarbeiter wurden beurlaubt, ­Büroleiter Grüber verhaftet, in das KZ Sachsenhausen eingeliefert und im Oktober 1941 nach Dachau in den „Pfarrerblock“ überführt. Über die erlittenen Grausamkeiten während seiner zweieinhalbjährigen KZ-Haft sowie die christliche Solidarität unter den Leidensgenossen hat er in seinen Erinnerungen berichtet.

Hochgeachtet und gefragt

Nach dem Krieg war Heinrich Grüber im Westen und zunächst auch im Osten des geteilten Landes ein höchst angesehener und viel gefragter Kirchenmann, der schon bald mit Ämtern und Aufgaben überhäuft wurde. So war er Mitglied der ersten Berlin-Brandenburger Kirchenleitung unter Bischof Otto ­Dibelius (1880–1967), mit dem es ­allerhand Reibungen gab. Er wirkte beim Magistrat Groß-Berlins im Beirat für kirchliche Angelegenheiten mit. Im Juli 1945 wurde er zum Propst von Berlin und Pfarrer an der Marien- und Nikolaikirche berufen. Von 1949 bis 1958 nahm er das extrem schwierige Amt eines Bevollmächtigten der EKD bei der Regierung der DDR wahr.

Er versuchte nach Kräften, angesichts der schweren Konflikte zwischen SED-Staat und Kirche – Angriffe auf die kirchliche Jugendarbeit der „Jungen Gemeinde“, Streit um die Konfirmation und/oder Jugendweihe, Verdrängung von Religionsunterricht aus den Schulen – mäßigend zu wirken. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges im Jahr 1958 teilte ihm die DDR-Regierung schließlich mit, dass seine Tätigkeit als EKD-Bevollmächtigter in Ost-Berlin beendet sei. Nach dem ­Mauerbau im August 1961 erhielt Grüber mit Familienangehörigen Einreiseverbot für Ost-Berlin und die DDR.

Heinrich Grüber (links, hintere Reihe) wurde am 18. Mai 1945 von den Sowjets eingesetzte provisorische Magistrat der Stadt Berlin zum stellvertretenden Leiter des Beirats für Kirchenfragen
Heinrich Grüber (links, hintere Reihe) wurde am 18. Mai 1945 von den Sowjets eingesetzte provisorische Magistrat der Stadt Berlin zum stellvertretenden Leiter des Beirats für KirchenfragenWikipedia/CC BY-SA 3.0 de

Israel ehrte Grüber als Gerechter der Völker

In Anerkennung seiner Lebensleistung – insbesondere in der Verfolgtenhilfe während des „Dritten Reiches“ – häuften sich Ehrungen und Auszeichnungen. Nur ein Bruchteil kann hier genannt werden: viele Ehrenpromotionen, so durch die Berliner Humboldt-Universität (1948) und die Comenius-Fakultät der Universität Prag (1956). 1964 erhielt er die Anerkennung als „Gerechter unter den Völkern“ durch den Staat Israel in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Am 8. Mai 1970 ernannte ihn die Stadt Berlin zu ihrem Ehrenbürger.

Heinrich Grüber war ein Kirchenmann von seltener Stand­haftigkeit und Konsequenz in den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Dabei war und blieb er stets ein Mann mit Ecken und Kanten, nicht frei von mancherlei Ambivalenzen bei seinen vielfältigen Tätigkeiten und Verpflichtungen. Er war ein herausragender Organisator und pragmatischer Macher, der anpacken konnte. Immer ­bewies er viel diplomatisches ­Geschick. In schwierigsten Zeiten bemühte er sich als Vermittler. Er war Brückenbauer und erfindungsreicher Netzwerker nach vielen ­Seiten hin. Grüber verstarb vor 50 Jahren am 29. November 1975 in Berlin.

Professor Manfred Gailus ist Historiker in Berlin.


Montag, 24. November, 19 Uhr, Martin-Niemöller-Haus, Pacelliallee 61 in Berlin-Dahlem: Der Bevollmächtigte. Der Berliner Propst Heinrich Grüber in NS-Zeit
und DDR, Vortrag und Gespräch mit ­Sigurd Rink, Vizepräsident des ­Evangelischen Bundes.


Samstag, 29. November, 10 bis 18.45 Uhr, Tagung der Evangelischen Akademie im Haus der EKD, Charlottenstraße: Hilfe und Widerstand. Zum 50. Todestag von Heinrich Grüber. Mit Bischof Christian Stäblein; den Professoren Manfred Gailus und Bernward Dörner, beide Zentrum für Antisemitismus­forschung, TU Berlin; Martina Voigt, Gedenkstätte Deutscher Widerstand; Rabbiner Andreas Nachama, der ­Enkelin Katrin Grüber und anderen. Mehr unter www.eaberlin.de/­seminars/data/2025/11/heinrich-grueber-hilfe-und-widerstand/
Um Anmeldung für die kostenfreie Tagung wird wegen der begrenzten Zahl der Plätze gebeten: eichhorst@eaberlin.de