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Gurnah: Deutschland soll sich der Kolonialgeschichte stellen

Literatur-Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah fordert, dass Deutschland seine Kolonialgeschichte auf dem gesamten afrikanischen Kontinent stärker ins Bewusstsein rückt. Heutzutage seien hierzulande zwar die Verbrechen in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) bekannt, aber diejenigen in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda) seien nahezu vergessen, kritisierte Gurnah am Sonntag bei seiner Schillerrede im Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach.

Mit der Schillerrede wird seit 1999 jährlich an den am 10. November 1759 in Marbach geborenen Friedrich Schiller erinnert. Für Baden-Württembergs Wissenschaftsministerin Petra Olschowski (Grüne) ist es Gurnahs Verdienst, dass die Verbrechen in Ostafrika in eine breitere Öffentlichkeit gelangten. Deutschland müsse Verantwortung für seine Kolonialgeschichte tragen, forderte die Politikerin. Mit Blick auf den Ukraine-Krieg und den Nahost-Konflikt werde sichtbar, wie Entscheidungen der Vergangenheit diejenigen in der Gegenwart beeinflussten. Zum Verständnis eigneten sich nicht nur Geschichtsbücher, sondern auch Literatur. Sie erweitere die Perspektive und ermögliche neue Sichtweisen, wie Gurnah in seinen Werken zeige.

Gurnah wurde 1948 auf Sansibar im heutigen Tansania geboren und emigrierte mit 18 nach England. Bis zu seiner Pensionierung 2017 lehrte er als Professor für Englisch und postkoloniale Literaturen an der University of Kent. 2021 erhielt er den Literatur-Nobelpreis. Seine Romane und Kurzgeschichten, die er auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache Swahili verfasst, thematisieren Kolonialismus sowie Migration. Zu seinen bekanntesten bereits in Deutsche übersetzten Werken zählen “Schwarz auf Weiß”, “Das verlorene Paradies”, “Ferne Gestade”, “Nachleben” und “Die Abtrünnigen”.

Als Schillerredner folgt Gurnah auf den deutsch-österreichischen Schriftsteller Daniel Kehlmann. Weitere Sprecher waren der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, der Virologe Christian Drosten, der Grünen-Politiker Cem Özdemir sowie der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

Die deutsche Kolonialherrschaft in Ostafrika war von Unterdrückung, Ausbeutung und Gräueltaten geprägt. Aufstände gegen die Deutschen wurden brutal niedergeschlagen. Im so genannten Maji-Maji-Krieg wurden zwischen 1905 und 1907 nach tansanischen Schätzungen bis zu 300.000 Menschen getötet.

Als erster deutscher Staatsvertreter hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Ende Oktober in Tansania Angehörige von Opfern deutscher Kolonialherrschaft getroffen. Beide Länder wollen diese Zeit der Ausbeutung und Gewalt nun gemeinsam aufarbeiten.