Artikel teilen:

Grün-katholischer Pragmatiker

Sein Charisma sind seine Inhalte: Winfried Kretschmann hat weder eine besonders angenehme Stimme noch eine unterhaltsame Sprechgeschwindigkeit. Dafür bietet der erste grüne Ministerpräsident Deutschlands Reden mit einprägsamen Bildern, Bibelzitaten und Inhalten ohne das häufige Politiker-Blabla. Eine an diesem Dienstag erscheinende Biografie aus der Feder der Journalistin Dagmar Seitzer zeichnet das Leben des in wenigen Monaten in den Ruhestand tretenden Ausnahmepolitikers nach.

Die Bilder des strahlenden Landesvaters lassen leicht vergessen, welche Kärrnerarbeit hinter dem Politiker lag, bevor er 2011 in den Chefsessel der Landesregierung gewählt wurde. Bei der Gründung des Landesverbands der Grünen 1979 in Sindelfingen war er dabei, 1980 bei der Gründung der Bundespartei in Karlsruhe. Ebenfalls 1980 zog er mit fünf weiteren Parteifreunden erstmals ins Landesparlament in Stuttgart ein.

Mit der bunten Truppe der Grünen, die ein Spektrum von Sozialisten bis hin zu Ökolibertären abdeckte, befand sich Kretschmann häufig im Clinch – bis heute. Mehr als einmal wollten die Fundis ihn aus der Partei rausschmeißen, weil er ihnen nicht radikal genug war. Seine Spitzenkandidatur 2011 stand auf der Kippe, weil die Partei eine Doppelspitze in der Führung verlangte, was Kretschmann kategorisch ablehnte. Seine ökologische Vision für die Marktwirtschaft: „Mit grünen Ideen schreibt man schwarze Zahlen.“

Die Grünen waren vor der Landtagswahl 2011 bereits im Aufwind. Eine wachsende Zahl von Gegnern des Milliardenprojekts Stuttgart 21 sah sich bei der Partei gut aufgehoben. Als dann gut zwei Wochen vor dem Wahltermin ein Tsunami das Atomkraftwerk im japanischen Fukushima so schwer schädigte, dass es zu Kernschmelzen und zur Freisetzung von radioaktivem Material kam, kippte die Stimmung in Deutschland und auch in Baden-Württemberg schlagartig.

Die Grünen holten bei der Landtagswahl 12,5 Prozentpunkte mehr als 2006 und schickten in einer Koalition mit der etwas kleineren SPD die stärkste Partei, die CDU, erstmals in der Landesgeschichte in die Opposition. Winfried Kretschmann wurde der erste grüne Ministerpräsident der Nation – und ist es bis heute geblieben.

Dass Kretschmann ein knallharter Pragmatiker ist, dem ein Freund-Feind-Denken immer fremd blieb, bekamen die Sozialdemokraten dann nach der Landtagswahl 2016 zu spüren. Anstatt eine Ampelkoalition zu schmieden, schwenkte der Landesvater zur CDU um – ein bemerkenswertes Aufeinanderzugehen, waren sich doch Schwarze und Grüne von jeher spinnefeind gewesen. Zum Gelingen der Koalition hatte wesentlich Thomas Strobl, damals CDU-Landesvorsitzender, beigetragen, der erkannte, wie er seiner Partei eine weitere Legislatur auf der Oppositionsbank ersparen konnte.

Dem Katholiken Kretschmann widmet die Autorin ebenfalls wichtige Passagen. Seine Leidenschaft für Kirchenführungen, seine Mitarbeit im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und seine Freundschaft mit dem früheren Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Gebhard Fürst, prägten sein Denken und Handeln. Das Unverständnis vieler bei den Grünen, auf die Kretschmanns tiefe Verbundenheit mit dem christlichen Glauben manchmal frömmelnd wirkt, spart die Autorin nicht aus.

Alle wichtigen Themen sind in der Biografie ausreichend bedacht – ob es sich um Kretschmanns „Politik des Gehörtwerdens“ handelt, seine Leidenschaft für die Philosophin Hannah Arendt oder sein Rückblick auf die Corona-Pandemie. Auch interessante Details aus der Jugend in Oberschwaben als Sohn ostpreußischer Vertriebener hat die Autorin notiert. Kretschmann spricht etwa von sexuellen Übergriffen, die er in einem Internat strenger Ordensbrüder in Riedlingen an der Donau erlitten habe.

Sein wirrer Ausflug in den maoistischen Kommunistischen Bund kommt zur Sprache sowie sein Kampf, trotz Radikalenerlass in den Schuldienst aufgenommen zu werden. Seine Ehe mit Gerlinde wird zu seinem Lebensglück – nicht nur, weil sie ihm als selbstbewusste Familienfrau für die Politik den Rücken freigehalten hat.

„Über das Leben eines Politikers kann man nur schreiben, wenn man Respekt und Achtung vor ihm hat“, heißt es im Nachwort zu dem Buch. Diesen Satz würden die wenigsten Journalisten unterschreiben, aber er gibt den Lesern einen ehrlichen Schlüssel in die Hand, aus welcher Perspektive diese Biografie verfasst wurde. (2274/15.09.22025)