Es ist Freitagnachmittag in Tirana. Draußen braust der Verkehr, Autos hupen und Straßenhändler preisen lautstark ihre Waren an. Der Ruf der Muezzin zum Freitagsgebet legt sich über Albaniens turbulente Hauptstadt. Drinnen, in der dritten Etage eines Bürohauses, wird ein evangelischer Gottesdienst gefeiert. Ein Herrnhuter Adventsstern dekoriert den Raum, die Losungen liegen in der albanischen Ausgabe auf dem Abendmahlstisch.
Mit einer 22-köpfigen Gruppe sind wir zu Gast in der Herrnhuter Brüdergemeinde, die mit der lutherischen Kirche verbunden ist. Auch in unserer Gruppe sind einige Herrnhuter vertreten, außerdem Mitglieder der Westfälischen Missionskonferenz und Interessierte, die der Einladung zu einer Studienreise des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung gefolgt sind.
In Albanien lernen wir Projekte der Herrnhuter Missionshilfe kennen, besuchen evangelische Kindergärten und Gemeindegruppen. Sie befinden sich in einer Minderheit in dem Land, das fünfzig Jahre lang kommunistisch war und erst seit 1991 wieder die Ausübung von Religion zulässt.
Eine große Mehrheit der albanischen Bevölkerung fühlt sich inzwischen dem Islam verbunden. Daneben zeigt die Orthodoxe Kirche starke Präsenz – insbesondere im Süden des Landes. Sie nennt sich autokephale, also selbstständig orthodoxe Kirche von Albanien. Derzeit ringt man in den verschiedenen Regionen um den Grad der Selbstständigkeit im Verhältnis zur Griechisch-Orthodoxen Schwesterkirche. Die große „Auferstehungskirche“ in Tirana zeigt das Wiederentstehen der orthodoxen Frömmigkeit.
Das Land ist von hoher Arbeitslosigkeit und großer Armut geprägt. Im Jahr 2014 wurde Albanien offizieller Beitrittskandidat für die Europäische Union; jetzt gilt es einen Aufgabenkatalog abzuarbeiten, etwa die Infrastruktur zu verbessern und insbesondere die Korruption zu bekämpfen.
Die Dänische Mission der Herrnhuter Brüdergemeine engagierte sich schon in den frühen 1990er Jahren in Projekten der Kinder- und Jugendarbeit. „In den darauf folgenden Jahren haben wir als Herrnhuter Missionshilfe die Notwendigkeit erkannt, diese Projekte zu unterstützen“, sagt Pfarrer Niels Gärtner aus Bielefeld. Die Kindergärten genießen einen guten Ruf und die Erzieherinnen sind mit ganzem Herzen engagiert – auch wenn sie für ihre Arbeit nur sehr wenig, mitunter gar keine Bezahlung erhalten. Man ist froh, wenn sie bleiben und nicht auswandern, wie viele aus der jüngeren Generation.
Menschen wandern aus den Dörfern in die Städte ab, wo sie sich einen besseren Lebensstandard erhoffen. Und viele, besonders auch junge Familien, zieht es in Richtung West-Europa: Auch wenn alle wissen, dass ein Antrag auf Asyl kaum Erfolgschancen hat; auch wenn die ersten schon wieder zurückkehren, ohne den erhofften Job bekommen zu haben.
„Sie fehlen uns. Wie brauchen hier Menschen mit Initiative – aber gerade diese verlassen uns“, so Merita Meko, Mitbegründerin der Herrnhuter Gemeinde in Tirana, die mit uns den Gottesdienst in der Herrnhuter Tradition feiert. Der Verkehrslärm dringt noch lauter als üblich in den Gottesdienstraum hinein. Die rote Flagge mit dem Doppeladler flattert aus den Autos – man freut sich über die Qualifikation für die Fußball-Europameisterschaften 2016. Ein unerwarteter und gefeierter Schritt in Richtung Europa – aber viele weitere müssen folgen, bis das Land in Europa angekommen ist.
Beate Heßler ist MÖWe-Regionalpfarrerin für die Kirchenkreise Unna, Hamm, Münster, Tecklenburg und Steinfurt-Coesfeld-Borken.