Die Mehrheit der ultrareligiösen Evangelikalen hat in der ersten Wahlrunde in Brasilien für den amtierenden Präsidenten Bolsonaro gestimmt. Vor der Stichwahl am 30. Oktober setzt sein Herausforderer Lula zur Gegenoffensive an.
Berlin/São Paulo (epd). «Mach das L», ruft der Abgeordnete und Influencer Nikolas Ferreira seine Follower in einem Video auf. Dabei hält er den gespreizten Daumen und erhobenen Zeigefinger in die Kamera. Kirchen würden geschlossen, Pastoren verfolgt und «du kannst deine Familie vor Banditen nicht mehr schützen». «Mach das L», mahnt der ultrakonservative Anhänger von Präsident Jair Bolsonora. Das «L» steht für Lula, den linken Expräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und Herausforderer von Bolsonaro bei der Stichwahl um das Präsidentenamt am 30. Oktober. Das Video ist blanker Zynismus und Teil einer Fake-News-Kampagne der Ultrarechten, die sich im Internet rasant verbreitet.
In Brasilien hat der erbitterte Kampf um die evangelikalen Wähler begonnen, die inzwischen etwa 33 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Es gibt keinen Tag, an dem der 26-jährige Ferreira nicht pöbelt und gegen Lulas Arbeiterpartei PT hetzt. Auf Instagram folgen ihm 4,6 Millionen Menschen – und auch auf Twitter hat er 1,4 Millionen Follower, die seine Falschnachrichten zuverlässig weiterverbreiten. Auf Antrag von Lulas Arbeiterpartei PT wurde das Video vom Obersten Wahlgerichtshof wegen Falschinformationen verboten. Innerhalb von 24 Stunden sollte es aus allen sozialen Netzwerken gelöscht sein. Doch da hatte es schon längst die Runde gemacht.
Die erste Wahlrunde am 2. Oktober gewann zwar Lula, der Brasilien bereits von 2003 bis 2011 regierte. Allerdings war sein Vorsprung vor Bolsonaro viel knapper als in den Umfragen vorhergesagt. Wahlentscheidend sind deshalb die mehr als 50 Millionen Anhänger einer evangelikalen Kirche. Für Lula, der die meisten Stimmen im
armen Nordosten, aber auch in den Metropolen São Paulo und Rio de Janeiro erhielt, stimmten nur 32 Prozent der Evangelikalen. Für den 67-jährigen Bolsonaro waren es 49 Prozent.
Die Geheimwaffe des ultrarechten Amtsinhabers ist dabei seine Ehefrau Michelle, 27 Jahre jünger als er und eine strenggläubige Evangelikale. Während sie sich im Wahlkampf 2018 noch im Hintergrund hielt, kommt ihr heute eine entscheidende Rolle zu. Sie tritt öffentlich bei Veranstaltungen auf, postet Videos und trifft Anhänger. Michelle soll vor allem Frauen ansprechen, die er aufgrund von sexistischen Aussagen verprellt hat. «Bolsonaro wurde von Gott entsandt! Er ist das Werkzeug Gottes», rief sie vor 10.000 begeisterten Anhängerinnen und Anhängern bei ihrem bislang größten Auftritt in Rio de Janeiro im Juli.
Der «Michelle-Effekt» bereitet Lulas Wahlkampfteam Sorge. Nun hat der Kandidat zur Gegenoffensive ausgeholt. Er werde keine Kirchen schließen, betont Lula auf fast jeder Veranstaltung. Inzwischen gibt es für Lula ebenfalls Unterstützervideos von evangelikalen Pastoren, Flyer mit Bibelsprüchen und die roten T-Shirts von Lulas Partei mit dem Konterfei von Jesus. Auch die Jugendbewegung «Jesus der Erlöser»
steht bei Lulas Wahlkampfauftritten auf der Bühne und feiert den Kandidaten. Eine Webseite enttarnt die Falschinformationen über vermeintliche Kirchenschließungen und die Legalisierung von Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat. Doch die Skepsis vieler evangelikaler Wähler bleibt, obwohl die Mehrheit von ihnen in
Armenvierteln wohnt und von Lulas Sozialpolitik profitiert hat.
Lange haben sich die linken Parteien zu wenig um diese wachsende religiöse Wählerklientel gekümmert. Bolsonaro nahm diese offene Flanke für sich ein. Erst kurz vor seiner Kandidatenkür im Jahr 2016 ließ sich der Katholik im Fluss Jordan taufen und galt danach als evangelikal. Zwei Drittel der Evangelikalen stimmten 2018 für ihn – es waren die entscheidenden Stimmen. Jetzt sucht Lula neue Allianzen mit evangelikalen Pastoren, besucht Gemeinden und wendet sich in einem offenen Brief direkt an sie.
Vor allem in der Peripherie der Großstädte werden immer neue Pfingstkirchen gegründet, Schätzungen zufolge sind es rund 20 pro Tag. Sie entstehen dort, wo der Staat nicht präsent ist. Wenn das Wachstum so weitergeht, wird das größte katholische Land weltweit 2030 mehrheitlich evangelikal sein. Der Kampf um die evangelikale Wählerschaft dürfte also immer wichtiger werden.