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Glück mit Schatten

Nach einer aktuellen Bertelsmann-Studie ist das Armutsrisiko von Familien größer als gedacht. Sozialverbände fordern eine grundlegende Reform der Familienförderung

MG

Münster/Düsseldorf/Gütersloh – Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe fordert eine Reform der Hilfen für Familien mit niedrigen Einkommen. „Die Sozial- und Familienpolitik in Deutschland ist nicht armutsfest“, sagte der Fachreferent der Diakonie RWL, Remi Stork, in Münster. So sei das Kindergeld „nach oben wie unten ungerecht“, kritisierte der Experte. Während Familien mit höheren Einkommen von jeder Erhöhung profitierten, helfe es Familien mit geringem oder gar keinem Einkommen kaum. Bei Eltern, die Hartz IV erhalten, werde das Kindergeld vollständig mit der Sozialleistung verrechnet.
Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung ist das Armutsrisiko von Familien größer als bisher angenommen. Besonders drastisch ist demnach die Situation für Alleinerziehende, bei denen die Risikoquote mit 68 Prozent beziffert wird – über 20 Prozentpunkte mehr als in früheren Untersuchungen. Grundlage der Studie ist eine neue Berechnungsmethode der Bochumer Sozialökonomen Notburga Ott und Martin Werding, die empirische Daten zur Einkommenssituation von Familien und kinderlosen Paaren seit Anfang der 1990er Jahre analysierten. Dabei wurde untersucht, welche zusätzlichen Kosten durch Kinder und Jugendliche im Haushalt entstehen.
Nach EU-Definition gilt als arm, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent des jeweils mittleren Einkommens verdient. Die Grenze erhöht sich bei mehreren Menschen im Haushalt und liegt für Alleinerziehende mit einem Kind um knapp ein Drittel höher, für ein kinderloses Paar um die Hälfte höher und für eine Familie mit zwei Kindern gut doppelt so hoch. Diese Gewichtung geht zurück auf eine Skala der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Bei der Armutsberechnung mit pauschalen Größen nach der OECD-Methodik seien arme Familien systematisch reicher gerechnet worden und wohlhabende weniger reich, kritisieren die Forscher. Dagegen betrachten die Bochumer Wissenschaftler nach den Angaben auch die unterschiedliche Einkommenssituation und die Größe der Familien. Für ärmere Familien sei die Belastung durch Kinder im Verhältnis größer als für wohlhabende, hieß es.
Stiftungsvorstand Jörg Dräger forderte, das System von Kindergeld und -freibeträgen zu überdenken. Beide hätten in der Vergangenheit nur geringe Effekte auf den Wohlstand von Familien gehabt. Notwendig sei, die finanzielle Förderung auf einkommensschwache Familien zu konzentrieren.
Wohlfahrtsverbände und Kirchen wiesen schon lange darauf hin, dass die Politik die Zahl der armen Familien zu niedrig ansetze, sagte Stork. Doch die nun veröffentlichte Zahl zum Armutsrisiko Alleinerziehender sei eine „Sensation“. Es zeige, wie viele oft alleinstehende Mütter trotz Job knapp an der Grenze des Existenzminimums lebten. Gerade bei alleinerziehenden Elternteilen kämen die bestehenden staatlichen Hilfen oft nicht an. Maßnahmen wie das Bildungspaket seien oftmals zu kompliziert zu beantragen. Auch der Unterhaltsvorschuss oder der Kinderzuschlag reichten nicht aus, um das Armutsrisiko Alleinerziehender zu mindern. Umso wichtiger seien flexible Arbeitszeit- und Kinderbetreuungsmodelle sowie staatliche Leistungen, die den besonderen Bedarf von Kindern und Jugendlichen berücksichtigen, betonte Stork.
Der Referent für Kinder- und Jugendpolitik der Diakonie RWL erhofft sich durch die Bertelsmann-Studie neuen Schwung in der Armutsdebatte. „Es reicht nicht, das Elterngeld zu erhöhen, aber die sozial benachteiligten Stadtteile bleiben abgehängt“, sagte Stork. Eine wirksame Kinder- und Familienpolitik sei nur mit einer flächendeckend guten Infrastruktur möglich, angefangen bei Investitionen in die Qualität der Kindertagesstätten und Ganztagsschulen.
Auch die Diakonie Deutschland unterstützte den Appell der Studie, die bisherigen Instrumente der Familienpolitik zu überdenken. Neben einem Grundbetrag pro Kind bedürfe es weiterer Hilfen wie Wohngeld oder Mittel für Schulmaterial. epd/KNA/UK