WORMS – Der Theologe Kai Funkschmidt von der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) hat davor gewarnt, in den Mitgliedern neuer religiöser Bewegungen pauschal Opfer umfassender Gehirnwäsche zu sehen. Tatsächlich sei der Umgang mit abweichenden Meinungen und Zweifeln an der jeweiligen Lehre höchst unterschiedlich, sagte er am Rande der Wormser Religionsgespräche. Im Gegenzug werde die Gewissensfreiheit der Mitglieder auch in den großen Kirchen eingeschränkt.
Mittlerweile gebe es selbst in Sondergemeinschaften wie bei den Mormonen, wo das Zeugen von Kindern für jeden Mann als religiöse Pflicht gelte, interne Diskussionen über den Umgang mit Kinderlosen und Homosexuellen. Die Neuapostolische Kirche habe schon vor Jahrzehnten nach einer Wende in der eigenen Lehre die Eigenverantwortung des einzelnen Gläubigen betont. Im Gegensatz zu den großen Kirchen existiere dort allerdings keine wissenschaftliche Theologie, die die Wahrheit durch Annäherung suche.
„Systematischer Zweifel wird dort schwieriger“, sagte Funkschmidt, „er wird weder bei den Zeugen Jehovas, noch bei Mormonen oder Neuapostolischer Kirche entwickelt.“ Einen wichtigen Unterschied zu den großen Kirchen stelle ebenso die oft rigorose Trennung von Abweichlern dar. Allerdings müsse auch hier differenziert werden.
„Was die Zeugen tun, halte ich für unmenschlich“, sagte der EZW-Experte. Während bei den Zeugen Jehovas meist sogar familiäre Kontakte zu Ausgetretenen abgebrochen würden, könnten in der Mormonen-Kirche Ausgeschlossene sogar weiter religiöse Versammlungen besuchen.
Letztlich seien alle Religionen daran interessiert, dass ihre eigenen Mitglieder sich nicht zu weit von der herrschenden Lehre entfernen, und in einem gewissen Ausmaß sei dies ein legitimer Wunsch, sagte Funkschmidt. Bei Protestanten und Katholiken in Deutschland habe die Kirche wenig Macht auf einzelne Mitglieder, Einschnitte in die Gewissensfreiheit beträfen dort daher eher hauptamtliche Mitarbeiter. So müssten evangelische Pfarrer, die ihre Kinder nicht im Säuglingsalter taufen lassen, in Sachsen mit Disziplinarmaßnahmen rechnen.
In anderen Ländern würden Verstöße gegen Normen und religiöse Vorschriften auch bei einfachen Gemeindemitgliedern teilweise noch sehr viel härter geahndet, berichtete Funkschmidt. Er selbst habe vielfach erlebt, wie bei den südafrikanischen Lutheranern Mädchen bei einer Teenager-Schwangerschaft im Gottesdienst auf eine separate Sünderbank versetzt worden seien. In Schweden habe die evangelische Staatskirche noch bis ins 20. Jahrhundert sogenannte Haus-Verhöre durchgeführt, bei denen der Pfarrer die Gemeindemitglieder nach ihrem Lebenswandel befragte.
Funkschmidt hatte als Referent an den Wormser Religionsgesprächen teilgenommen, die unter dem Motto „Gewissensfreiheit in der Einen Welt“ standen. Mit der Ausrichtung der Wormser Religionsgespräche wollen die Stadt Worms und die evangelische Kirche an zwei katholisch-protestantische Treffen in den Jahren 1541 und 1557 in Worms anknüpfen, auf denen – letztlich erfolglos – ein Konsens in den strittigen Glaubensfragen gesucht wurde. epd
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Gewissen gegen Kirchenrecht
Viele Glaubensgemeinschaften gehen rigoros gegen abweichende Haltungen in den eigenen Reihen vor. Selbst in den großen Kirchen steht manches unter Strafe

© epd-bild / Meike Böschemeyer