In einem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst, heißt es. Man mag den Kampf zwischen Israel und Hamas nun Krieg nennen oder nicht. Aber der Versuch, in all dieser Gewalt der „Wahrheit“ auf die Spur zu kommen, führt an die Grenzen des Möglichen. Auch gut informierte Beobachterinnen und Beobachter.
„Was soll man dazu sagen? Wer hat denn nun Recht?“ Immer wieder hören wir diese Frage. Als Freunde. Nachbarn. Familienangehörige. Natürlich auch als Redakteurinnen und Redakteure. Und ich muss gestehen: Ich bin ratlos.
“Ich war ungezählte Male in Israel”
Lange Zeit habe ich mich als Experten für das Thema Nahost gesehen. Ungezählte Male war ich dort, im Heiligen Land. Für Reportagen. Hintergrundberichte. Leserreisen. Konferenzen. Um Freunde zu besuchen, die auf dem Ölberg lebten, manchmal drei-, viermal im Jahr. Auf den Spuren Jesu zu gehen, die biblischen Orte zu erleben, das war unbeschreiblich. Ebenso die einzigartige Mischung aus Weltreligionen und Kulturen.
Aber je öfter ich dort war, desto verwirrter wurde ich. Ich schloss Freundschaft mit palästinensischen Christinnen und Christen in Bait Dschala und Bethlehem, mit Israelis in Tel Aviv und an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ich erlebte Gängelungen und Vertreibungen von Palästinensern und die Trauer einer israelischen Mutter, deren Tochter bei einem Bombenattentat starb. Ich erfuhr immer mehr, konnte alle immer besser verstehen – und verstand doch immer weniger vom Großen und Ganzen. Eine schier endlose Kette von Ursache und Wirkung, von Gewalt und Gegengewalt zieht sich durch die Jahrzehnte. Beide Seiten wähnen sich im Recht und berufen sich auf göttliche Erwählung.
“An der Seite Israels stehen”: Was heißt das konkret?
Man könnte annehmen, dass durch den Überfall der Hamas auf Israel vor sechs Wochen die Lage eindeutiger geworden sei. Und ja: Der beispiellose Anschlag vom 7. Oktober ist durch nichts, aber auch rein gar nichts zu rechtfertigen. Terror darf nicht sein. Wenn die Hamas das erklärte Ziel hat, Israel auszulöschen, dürfen wir nicht wegsehen: Wir müssen an der Seite Israels stehen.
Aber was heißt das konkret? Sind die Gegenschläge Israels angemessen? Überzogen? Muss man den Tod der Zivilbevölkerung in Gaza in Kauf nehmen, wenn die Hamas sich hinter ihr versteckt? Was ist mit den Siedlungen im Westjordanland? Und wie verhalten wir uns, wenn in Deutschland auf den Straßen für Palästina demonstriert wird – Proteste verbieten oder verstehen?