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Gestorben für die Schutztruppe der Republik

Es ist der 25. April 1925, kurz nach 13.00 Uhr am Tag vor dem entscheidenden zweiten Urnengang zur Wahl des neuen Weimarer Reichspräsidenten. Rund 15 Anhänger des „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, einem Wehrverband zum Schutz der Weimarer Demokratie, sind mit offenen Möbelwagen auf der Rückfahrt von einer Werbetour durch den Berliner Westen. Mit dabei: der 27-jährige parteilose Lagerarbeiter Erich Schulz, den ein Porträtfoto in Weltkriegsuniform als schmächtigen Mann mit dunklen Augen und schmalem Oberlippenbärtchen zeigt.

Auf der Innsbrucker Straße in Schöneberg stellen sich dem Konvoi mehrere Männer in den Weg. Unter ihnen ist der Landwirt Alfred Rehnig (21), der dem rechtsextremen „Bund Wiking“ angehört. Es kommt zu Provokationen, von wem sie ausgehen, ist auch nach der späteren Gerichtsverhandlung unklar. Auf Wortgefechte folgt eine Prügelei. Die „Deister-Weser-Zeitung“ aus Hameln berichtet am Tag nach der Bluttat, Rehnig „zog seinen Revolver, schoss in die Luft und daraufhin in die Reichsbannerleute und tötete in angeblicher Notwehr den Lagerverwalter Erich Schulz.“ Schulz ist das erste Todesopfer des „Reichsbanners“ in der Hauptstadt.

„Namentlich wissen wir von 64 Reichsbannerleuten, die noch vor der Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats bei seiner Verteidigung ermordet worden sind“, sagte Fritz Felgentreu, Vorsitzender des 1953 gegründeten Vereins „Reichsbanner – Bund aktiver Demokraten“ dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Opfer in der Zeit der NS-Diktatur aus den Reihen des „Reichsbanners“ seien ungezählt.

Bei der Wahl unterstützt die Kameradschaft Kreuzberg, der Schulz seit 1924 angehört, den Kandidaten des demokratischen „Volksblocks“ aus Zentrum, SPD und DDP, den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx. Zum Nachfolger des gestorbenen Friedrich Ebert (SPD) wird am Ende der Kandidat des rechtsgerichteten „Reichsblocks“, Paul von Hindenburg, gewählt. Es sind unruhige, oft gewaltträchtige Tage auf den Berliner Straßen.

2. Mai 1925, Neuer Garnisonsfriedhof in Neukölln: Tausende Mitglieder des „Reichsbanners“ erweisen dem ermordeten Erich Schulz die letzte Ehre. Nach den Trauerreden tragen sechs uniformierte Männer den mit der Adler-Flagge des Verbandes geschmückten Sarg zum Grab. Still erheben sich unzählige Hände zum militärischen Gruß.

Das „Reichsbanner“, gegründet 1923, ist eine parteiübergreifende Gruppierung, die sich zur Massenorganisation mit bis zu drei Millionen Mitgliedern entwickelt. Sie betreibt Bildungsarbeit und bietet kulturelle und Freizeitaktivitäten an. Doch zuallererst versteht sie sich als „Schutztruppe der Republik“. Im Dezember 1931 schließt sie sich mit Gewerkschaften und anderen Verbänden zur Kampforganisation der „Eisernen Front“ zusammen. Ihr stehen zahlreiche bewaffnete Gegner gegenüber: der von den Kommunisten 1924 gegründete „Rote Frontkämpferbund“, der „Stahlhelm“ der Weltkriegsveteranen und die Sturmabteilung (SA) der Nationalsozialisten. 1933 verbieten die Nazis das „Reichsbanner“.

Nach dem Tod von Erich Schulz wird Schütze Alfred Rehnig angeklagt, doch die Tat bleibt ungesühnt, weil er vom Vorwurf der Körperverletzung mit Todesfolge freigesprochen wird. Die Verteidigung macht geltend, er habe in Notwehr gehandelt. „Die Polizei ermittelte schnell, Anklage wurde zügig erhoben, doch die Justiz war auf dem rechten Auge blind“, sagte 2018 der damalige Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) beim Gedenken an Schulz’ Grab auf dem Friedhof: Ein trauriges Lehrbeispiel dafür, „was passiert, wenn ein Staat nicht auf extremistische Täter reagiert“.

Eine Gefahr, die auch heute wieder bestehe, betont Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Den Bürgern müsse bewusst gemacht werden, „dass Demokratie gelebt, geschützt und vor allem bewahrt werden muss – von jedem Einzelnen“, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Erinnerung an die Menschen, die im „Reichsbanner“ Republik und Verfassung verteidigt hätten, könne helfen, eigene Formen der politischen Partizipation und des Engagements für die Demokratie zu entwickeln. Tuchel: „Die Botschaft des Reichsbanners ist klar und gilt bis heute: Wenn wir viele sind, haben wir bessere Möglichkeiten, die Demokratie zu verteidigen.“

Und Fritz Felgentreu, der Vorsitzende des heutigen Vereins „Reichsbanner“, appelliert: „Schwarz-Rot-Gold, die Farben des demokratischen Deutschlands, dürfen Rechtsextremen nicht kampflos überlassen werden. Es ist ein grotesker Etikettenschwindel, wenn die geistigen Erben der Deutschnationalen und Nationalsozialisten heute versuchen, sich der Farben Schwarz-Rot-Gold zu bemächtigen.“

Zum ersten Todestag von Schulz im Jahr 1926 wird ein vom „Reichsbanner“ gestifteter Grabstein eingeweiht. Dort finden bis zum Beginn der NS-Herrschaft regelmäßig Gedenkveranstaltungen statt. Dann gerät das Grab in Vergessenheit. 2016 wurde der Grabstein aufwändig restauriert. Seit 2017 erinnert das „Reichsbanner“ hier am Todestag an den im Einsatz für die Demokratie ermordeten Erich Schulz, so auch in diesem Jahr am 25. April.