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Geschichten von Verlust und Selbstbehauptung

Wie geht es mit dem Kino weiter? Das war das Thema einer der vielen Diskussionsveranstaltungen, die das traditionsreiche Filmfestival von San Sebastián in diesem Jahr anbot und zu der es Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ganz Europa einlud. Ist der Erfolg von „Barbenheimer“ – also die hervorragenden Zahlen der US-Filme „Barbie“ und „Oppenheimer“ – noch einmal zu wiederholen? Die Fachleute aus der Kino- und Verleihbranche waren sich zwar einig, dass es nach der Pandemie wieder aufwärts geht. Jedoch könnten europäische Filme nicht in derselben Liga wie „Barbenheimer“ spielen – schon aufgrund der viel niedrigeren Budgets in den europäischen Kinonationen. Das ist aber, wie man hinzufügen muss, ein weltweites Phänomen.

Ablesen konnte man das in diesem Jahr auch an dem Wettbewerb des Festivals in San Sebastián, das zu den großen vier in Europa zählt und das größte und wichtigste in der spanischsprachigen Welt ist. Es waren, wie auch schon im vergangenen Jahr, eher kleine Filme mit privaten, existenziellen und doch auch berührenden Geschichten, die Festivaldirektor José Luis Rebordinos und sein Team in ihre Auswahl eingeladen hatten. Filme, die vom Tod, von Selbstbehauptung oder Lebenskrisen handelten.

Symptomatisch war der Gewinner der „Goldenen Muschel“, „O corno“ („The Rye Horn“, deutsch „Mutterkorn“) der Spanierin Jaione Camborda. Maria arbeitet als Hebamme auf der Illa de Arousa. Es ist 1971, noch herrscht die Diktatur Francos. Als ein junges Mädchen schwanger wird, nimmt sie mithilfe des weheneinleitenden Mutterkorns eine – damals illegale – Abtreibung vor. Das Mädchen stirbt, und Maria flüchtet aufs Festland und nach Portugal, wo sie ihr eigenes Kind zur Welt bringt. „O corno“ ist ein konzentrierter Film, er verzichtet auf eine übliche Spannungsdramaturgie und hält Augenblicke fest, worauf schon der Beginn des Films, eine rund zehnminütige Geburtsszene, die nur den Schmerz der Gebärenden zeigt, einschwört.

„Chun xing“ („A Journey in Spring“) der beiden taiwanesischen Regisseurinnen Tzu-Hui Peng und Ping-Wen Wang ist der Versuch, die Gefühle von Trauer und Schuld in Bilder einzufangen. Ein alter, grantiger Mann wird mit dem Tod seiner Frau konfrontiert und fährt zu dem Sehnsuchtsort, von dem sie immer erzählt hat, einem spektakulären Wassserfall. Die beiden Regisseurinnen drehten ihren Film mit analogem Super-16-Zelluloidmaterial. Das kann man durchaus manieriert finden, schwerer wiegt aber, dass der alte Mann immer mit gesenktem Blick durch den Film laufen muss und als Charakter keine Tiefe erhält. Die Jury unter dem Vorsitz der französischen Regiseurin Claire Denis, der auch Christian Petzold („Roter Himmel“) angehörte, sprach dem Film die „Silberne Muschel“ für die beste Regie zu, eine schwer nachzuvollziehende Entscheidung.

„O corno“ wie auch „Chun xing“ waren Debuts, Erstlingswerke, das sollte bei aller Kritik beachtet werden. Der Wettbewerb dieser 71. Festivalausgabe gehörte dem Nachwuchs: Zehn der 16 Filme im Rennen um die „Goldene Muschel“ waren erste oder zweite Werke.

Die Arrivierten konnten in diesem Jahr nicht punkten. Der festivalerfahrene Rumäne Cristi Puiu stellte mit „MMXX“ den vielleicht sperrigsten Film des Wettbewerbs vor, vier Geschichten aus der Zeit der Pandemie, mit 160 Minuten überlang, sehr disparat inszeniert, mit mitunter hektischen Rhythmus, aber auch statischen Einstellungen.

Wie immer war der spanischsprachige Film ein Schwerpunkt des Wettbewerbs, der in diesem Jahr zwar vielfältig daher kam, aber wenig Highlights bot. Zu denen gehörten zweifellos die beiden argentinischen Beiträge, die einzigen Komödien in diesem Jahr. „La práctica“ („The Practice“) von Martin Rejtman erzählt lakonisch und mit viel Situationskomik von einem in Chile lebenden argentinischen Yoga-Lehrer in einer Lebenskrise. In einer Zeit des Umbruchs befindet sich auch der Hochschullehrer Marcelo in „Puan“ von Maria Alché und Benjamin Nashtat. Immerhin hat „Puan“ den Preis für das beste Drehbuch bekommen und Marcelo Subiotto den Darstellerpreis. An beiden Filmen war die Kölner Produktionsfirma Pandora beteiligt, sodass sie möglicherweise auch zu uns ins Kino kommen.