Wenn junge Leute auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela pilgern, spielt der christliche Glaube gar nicht immer eine Rolle. Fünf Begegnungen vor Ort in Spanien.
Ein sonniger Spätfrühlingstag, morgens um halb zehn in Camponaraya. Der Ort liegt etwa 200 Kilometer vor Santiago de Compostela. Das bedeutet: Es fehlen höchstens noch zehn Etappen bis zum Ende des Jakobsweges. Carolin Malke hat ihren Pilgertag heute wieder spät begonnen. “Wenn man morgens um sechs oder sieben Uhr startet, läuft man in einer Kolonne. Es ist total überlaufen – das ist nervig”, sagt sie.
Die 27-jährige Tischlerin aus Forst in der Lausitz macht den Jakobsweg allein und beißt sich Tag für Tag durch. Ihren Antrieb zur Pilgerschaft umreißt sie zwischen Vergangenheit und Zukunft wie folgt: “Ich habe mir in den vergangenen Jahren tausend Dinge vorgenommen, vieles angefangen und nicht zu Ende gemacht. Wenn ich den Jakobsweg schaffe, dann bin ich überzeugt, dass ich alles, was ich mir sonst vornehme, auch schaffe.”
Sie habe auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, um unterwegs Zeit auch zum Nachdenken zu haben. “Mit dem Glauben habe ich gar nichts zu tun”, bekennt sie, setzt jedoch hinzu: “Trotzdem gehe ich in kirchliche Herbergen und in Messen. Es ist schön, da aufgenommen zu sein.”
Eine halbe Tagesetappe weiter macht die junge Französin Phedre Samaran gerade Pause. Sie sitzt auf der Treppe der Herberge Ave Fenix in Villafranca del Bierzo und dreht sich eine Zigarette. Samaran lebt in Paris und studiert Französische Literatur. Eigentlich ist sie Pilgerin; doch gegen freie Kost und Logis hilft sie in der Herberge ein paar Tage mit. “Ich bin als Atheistin erzogen worden und habe unterwegs schon viele Pilger ohne religiösen Hintergrund getroffen”, erzählt sie.
Nach dem Start in Le Puy-en-Velay ist sie mit ihren Brüdern durch Teile von Frankreich gezogen. “Ich mag es zu gehen, die Natur zu betrachten”, sagt sie. Doch ihr Ansatz der Pilgerschaft reicht in die Tiefe: “Ich bin erst 18 Jahre alt und lerne hier, im Leben verantwortlich zu sein; wie man plant, mit gewissen Situationen umgeht. Für mich ist der Jakobsweg eine Art Schule des Lebens.”
Unterwegs zu lernen, “wie die Welt funktioniert” und “erwachsen zu werden”, dazu könne sie jeden nur ermutigen, sagt Phedre. “Natürlich kann man auf dem Jakobsweg auch Spaß haben und Party machen, je nachdem, wo du bist und welche Leute du triffst. Aber ich gehe früh zu Bett, denn ich stehe morgens früh auf.”
Jessica Michel (28, Krankenschwester) und ihr Freund Thomas Genolet (32, Sozialarbeiter) sind ebenfalls Franzosen, aus Hochsavoyen. Eben sind sie im Dorf O Cebreiro eingetroffen und haben seit dem Beginn in Cahors ihren 49. Marschtag hinter sich. Inspiriert wurde Jessica durch ihre pilgernde Großmutter Danielle, der sie den ersten Teil des Weges widmete. “Den Rest mache ich für mich”, stellt sie klar.
“Wir beide suchen hier, freier zu sein”, umreißt Thomas einen weiteren Anstoß, der in der Corona-Krise zu keimen begann. Pilgern, das heißt für ihn außerdem: “Das Leben findet jeden Tag statt. Und ich möchte mein Herz weiterentwickeln.” Seine Freundin ergänzt: “Ich fülle meinen spirituellen Werkzeugkasten.” Beide, so Jessica, sehen den Jakobsweg “als große Probe als Paar. Das ist nicht jeden Tag einfach, so wie im Leben.”
Bezeichnend sind drei Mini-Objekte, die Thomas oben am Pilgerstab befestigt hat. Er klärt auf: “Ein Herz als Zeichen der Liebe, eine Vogelfeder für die Leichtigkeit und einen Smiley-Sticker für die Freude.”
Elisabeth Weber (31) hat es geschafft. Die Marketing-Managerin aus Linz steht auf dem Vorplatz der Kathedrale von Santiago de Compostela. Sie hat mit Glauben ebenfalls nichts am Hut. Ihre Motivation zur Pilgerschaft erklärt sie so: “Einmal im Jahr möchte ich etwas für mich persönlich tun, das außerhalb meiner Komfortzone ist; einfach um zu reflektieren, die Gedanken zu sortieren.” Sie war schon wochenlang in Australien; nun ist sie auf dem Portugiesischen Weg gepilgert.
Über sich selbst hat sie gelernt, sehr diszipliniert zu sein und auch “harte Sachen” zu bewältigen, nämlich eine 31-Kilometer-Etappe. Als wichtigste Erkenntnisse nimmt sie diese mit in ihren Alltag: “Auf meine Bedürfnisse hören, weg von der Perfektionierung.” Dann schultert sie den Rucksack und bricht zum nahen Pilgerbüro auf, um sich ihre Compostela-Urkunde abzuholen.