Sie war eine Netzwerkerin mit vorzüglichen Kontakten, eine Visionärin und hartnäckige Kämpferin im Dienst der deutschen Nachkriegskinder: Am 14. September 1949 hat die jüdische Journalistin Jella Lepman die Internationale Jugendbibliothek in München gegründet. Doch während die Einrichtung mit ihrem einzigartigen Archiv heute Forschende aus aller Welt anlockt, ist über ihre Erfinderin immer noch kaum mehr bekannt, als sie selbst 1964 in ihrer Autobiografie „Die Kinderbuchbrücke“ niederschrieb.
Diese Lücke beschäftigt mittlerweile mehrere Wissenschaftler. Zum Jubiläum holt die IJB sie am 4. und 5. September zu einer Tagung ins Schloss Blutenburg, wo die von Bund, Freistaat und Landeshauptstadt geförderte Einrichtung seit 1983 untergebracht ist. Das Ziel: Mehr über Lepmans Verhältnis zum Judentum oder über ihre Stuttgarter Jahre zu erfahren.
Schon die bekannten, in der 2020 neu verlegten „Kinderbuchbrücke“ nachzulesenden Fakten zeugen von einem beeindruckenden Leben: Im Mai 1891 als Tochter eines jüdischen Stuttgarter Fabrikanten geboren und 1922 früh verwitwet, musste Jella sich und ihre beiden Kleinkinder allein durchbringen. Als erste Frau bekam sie eine Anstellung als Redakteurin beim Stuttgarter Neuen Tagblatt und engagierte sich in der liberalen Deutschen Demokratischen Partei.
1933 endete ihre berufliche und politische Karriere jäh mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Für eine Jüdin mit demokratischem Parteibuch war in Nazi-Deutschland kein Platz: Jella emigrierte 1936 mit ihren Kindern über Italien nach London, wo sie sich mit zäher Hartnäckigkeit eine neue Existenz beim BBC und beim amerikanischen Rundfunk aufbaute, bevor sie 1945 im Auftrag des US-Militärs als Beraterin mit gemischten Gefühlen in ihre alte Heimat zurückkehrte.
Lepmans persönliche Kontakte waren erstaunlich: Der Philosoph Max Horkheimer war ihr Cousin, der spätere Bundespräsident Theodor Heuss ihr Parteikollege, der Schriftsteller Golo Mann ihr Berufskollege in London. Nach 1945 kamen Erich Kästner, Hildegard Hamm-Brücher, die Rockefeller Stiftung und die US-Präsidenten-Gattin Eleanor Roosevelt als enge Förderer hinzu.
Im Oktober 1945 warf sich Jella Lepman gleich nach ihrer Ankunft in Bad Homburg mit voller Kraft in ihre neue Aufgabe als Beraterin für Frauen- und Kinderfragen im Rahmen der „Reeducation“ des US-Militärs. Sie reiste durch das zerbombte Deutschland, sah überall Waisenkinder, die häufig als Banden in den Trümmern lebten und fasste den Entschluss, bei ihnen anzufangen. Nicht nur Nahrung für den Leib bräuchten die in Hitler-Deutschland aufgewachsenen Kinder, erklärte sie ihren US-Generälen, sondern auch Nahrung für Seele und Geist, „um diese gänzlich verwirrte Welt wieder ins Lot zu bringen“.
Ab da ging es Schlag auf Schlag. Mit Charme und Chuzpe stampfte die damals 55-Jährige die internationale Ausstellung „Das Jugendbuch“ aus dem Boden. Sie warb Bücherpakete aus aller Welt ein, sogar chinesische und koreanische Lektüre war dabei. Absagen wie aus Belgien, das auf Besatzung und Leid durch das NS-Regime verwies, ließ sie nicht gelten: „(…) gerade Ihr Land darf bei dem Versuch, den Kindern Deutschlands eine neue Chance zu geben, nicht fehlen“, schrieb sie nach Brüssel – und gewann mit ihrer Leidenschaft auch die größten Skeptiker. Am 3. Juli eröffnete die Schau ausgerechnet und gerade in Hitlers Vorzeigemuseum, dem Münchner „Haus der Kunst“, anschließend tourte „Das Jugendbuch“ durch zahlreiche deutsche Städte, von Stuttgart über Frankfurt bis Berlin.
Die Ausstellung war ein Publikumserfolg und zeigte Jella Lepman, dass ihr Instinkt nicht trog: Kinder und Jugendliche waren empfänglich für die Ideen von Respekt, Frieden und Toleranz, die viele der ausländischen Bücher transportierten. Sie regte erste Übersetzungen ins Deutsche an und beschloss, ihre Idee in einer Jugendbibliothek mit internationalen Büchern zu verstetigen.
Gegen viele Widerstände und mit großer Unterstützung ihres sagenhaften Netzwerks etablierte sie auch dort Neuheiten, denen man in Deutschland noch nicht traute: Eine Bücherei mit offenen Regalen, aus denen sich das junge Publikum frei bedienen kann? Malateliers für Kinder und Debattierclubs für Jugendliche? Sprachkurse und Theatergruppen? Die Internationale Jugendbibliothek sei „keine Bibliothek, sondern ein Zirkus“, urteilten die altgedienten „Bibliotheksbürokraten“, wie Lepman sie in ihren Erinnerungen nennt.
1957 zog sich die Gründerin mit 66 Jahren aus ihrem Projekt zurück und siedelte nach Zürich um. Dort war auf ihre Anregung hin vier Jahre zuvor das „International Board on Books for Young People“, kurz IBBY, gegründet worden, das bis heute mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis die höchste Auszeichnung für Kinderliteratur vergibt. Sie schrieb Zeitungsartikel, übersetzte Bücher und gab Sammlungen von Gute-Nacht-Geschichten heraus. Am 4. Oktober 1970 starb Jella Lepman an den Folgen einer Krebserkrankung. (00/2576/02.09.2024)