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Friedensgutachten warnt vor einer Weltordnung am Abgrund

Das neue Friedensgutachten 2025 warnt: Die Weltordnung kollabiert. Europa muss souveräner werden. Doch Aufrüstung allein reicht nicht, es muss verantwortungsvoll gehandelt werden.

Das Friedensgutachten 2025 fordert eine neue Sicherheitsstrategie – nicht durch Aufrüstung allein, sondern durch wehrhafte Diplomatie
Das Friedensgutachten 2025 fordert eine neue Sicherheitsstrategie – nicht durch Aufrüstung allein, sondern durch wehrhafte Diplomatieepd-bild/Christian Ditsch

Mit „Frieden retten!“ zieht das diesjährige Friedensgutachten die ernüchternde Bilanz einer internationalen Ordnung am Abgrund. Was mit dem Angriffskrieg Russlands begann, spitzt sich mit dem autoritären Kurs der USA unter Trump zur doppelten Systemkrise zu. Die Analyse der Friedensforschungsinstitute endet in einem klaren Appell: Europa muss souveräner, wehrhafter – und konsequenter völkerrechtsbasiert handeln.

Die 2022 vom seinerzeitigen Bundeskanzler Olaf Scholz diagnostizierte Zeitenwende spiegelt sich in den Titeln des Friedensgutachtens, das – seit 1987 – jährlich von den führenden deutschen Friedensforschungsinstituten herausgegeben wird: Lautete der Aufruf 2021 noch zuversichtlich „Europa kann mehr!“, stand bereits 2022 mit „Friedensfähig in Kriegszeiten“ die akute Bedrohungslage im Fokus. Ganz in diesem Sinne lautete die Bilanz 2023 „Noch lange kein Frieden“ und wurde 2024 die globale Lage mit dem Bild einer „Welt ohne Kompass“ beschrieben. Am vorläufigen Ende dieser Klimax steht der diesjährige Weckruf: „Frieden retten!“

Eine neue Sicherheitspolitische Weltlage

Das Friedensgutachten 2025 diagnostiziert eine neue sicherheitspolitische Weltlage, die von multiplen Krisen und einer Auflösung bewährter Ordnungsstrukturen geprägt ist. Die Autoren sehen nach dem russischen Angriffskrieg mit der autoritären Umgestaltung der USA durch Donald Trump eine „zweite Zeitenwende“ angebrochen, in der sich liberale Demokratien behaupten müssen. In fünf Kapiteln analysiert das Gutachten unter anderem die Rückkehr bewaffneter Konflikte, etwa im Sudan, die Erosion völkerrechtlicher Normen, rüstungsdynamische Zuspitzungen, institutionelle Schwächen der Weltordnung und die Versicherheitlichung der Fluchtpolitik.

Mit Blick auf das Völkerrecht warnen die Autoren vor einem zunehmenden Rückzug westlicher Staaten aus etablierten Normen. In ihrer Stellungnahme betonen die Herausgeber, dass sich Europa sicherheitspolitisch in der Zange zwischen Russland und den USA befinde. Der transatlantischen Partnerschaft wird das Ende attestiert, denn Trump zeige „Verachtung für den gewählten Präsidenten der Ukraine“ und lasse Europa außen vor. Diese geopolitische Verschiebung erfordere eine europäische Reaktion: Europa müsse „Fähigkeitslücken schließen“ – und zwar so, „dass Europa auch ohne oder sogar gegen die USA verteidigungsfähig ist“.

Vertreter der vier führenden deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute stellten am 02. Juni in Berlin ihr diesjähriges Friedensgutachten vor
Vertreter der vier führenden deutschen Friedens- und Konfliktforschungsinstitute stellten am 02. Juni in Berlin ihr diesjähriges Friedensgutachten vorepd-bild/Christian Ditsch

Humanitäre Verantwortung und Friedensstrategie

Gleichzeitig warnen die Autoren vor einem gefährlichen Automatismus der Aufrüstung. Vielmehr müsse Verteidigung in eine umfassende Strategie eingebettet werden, die auf eine langfristige Friedensordnung zielt. Die Stellungnahme betont zudem die Notwendigkeit, die internationale Gerichtsbarkeit zu stärken, insbesondere gegen Versuche politischer Einflussnahme im Zuge des Gaza-Kriegs.

In ihren Empfehlungen fordern die Autoren eine Kombination aus Verteidigungsbereitschaft, rechtsbasierter Ordnungspolitik und humanitärer Verantwortung. Europa müsse seine Verteidigungsfähigkeit ausbauen, aber gleichzeitig auf Rüstungskontrolle setzen. Sie verlangen, dass „Völkerrecht […] vor Staatsräson“ geht und fordern: „Keine Waffen, wenn humanitäres Völkerrecht verletzt wird“. Damit verbunden ist der Appell, Netanjahu nicht offiziell zu empfangen.

Präsentation und Reaktionen auf das Gutachten

Das Friedensgutachten war am 2. Juni in der Bundespressekonferenz der Öffentlichkeit vorgestellt worden und am Folgetag Gegenstand eines gemeinsamen Abendforums der Evangelischen Akademien zu Berlin sowie der Evangelischen Akademie Villigst im Haus der EKD in Berlin. Herausgegeben wurde es vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), dem Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), dem Institut für Entwicklung und Frieden, Universität Duisburg-Essen (INEF) sowie dem Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung (PRIF), Frankfurt am Main.

Im Rahmen des Abendforums würdigte Jörg Lau, außenpolitischer Korrespondent im Hauptstadtbüro der „Zeit“, die Leistung des Friedensgutachtens 2025, den „Schock“ der gegenwärtigen Außenpolitik zu reflektieren. Die „Epoche der Nachkriegszeit“ scheine „abgeschlossen“ und man befinde sich nun in einer „defensiven Phase“, in der einstige Gewissheiten „zu entgleiten“ schienen. Die ehemalige Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Cathryn Clüver Ashbrook, hob hervor, dass das Friedensgutachten die „unbequeme Schlussfolgerung“ ebendieses Umbruchs deutlich mache: dass wir uns in einem „All-hands-on-deck“-Moment befänden, also einem solchen, in dem ‚alle mit anpacken‘ müssten. Dies gelte „vor allem für ein Land wie die Bundesrepublik“, das über Jahrzehnte von Frieden und Wohlstand auf Grundlage von Sicherheitsgarantien profitiert habe.