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Friede, Freude, Zimtschnecken

„Probiers mal mit Gemütlichkeit“ sang Balou der Bär im Dschungelbuch. Das passende Lebensgefühl kultivieren die Dänen seit jeher. Nun entdecken auch die Deutschen „Hygge“, wie mehrere Bücher und ein gleichnamiges Magazin zeigen

Seit rund 40 Jahren werden die Dänen regelmäßig zu den glücklichsten Menschen der Welt gezählt, zuletzt beim UN-„World Happiness Report“ 2016. Das weckt die Neugier von Forschern weltweit. Sie wollten ergründen, was die Menschen im Norden so zufrieden macht. Zum einen mag es an den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen liegen: Gleichberechtigung, soziale Sicherung und gesellschaftliche Errungenschaften wie der Feierabend um 17 Uhr. Doch der eigentliche Grund scheint „Hygge“ zu sein, das dänische Lebensgefühl. Der Begriff steht für Gemütlichkeit, Geborgenheit, Gemeinschaft.

Mixtur aus bekannten Glücksrezepten

Hygge wirkt beim Blick von außen wie eine Mixtur aus längst bekannten Glücksrezepten. Die Zutaten für ein „hyggeliges“, entspanntes Beisammensein nach dänischer Lesart wirken banal: Kerzenschein, selbstgemachtes Essen, eine Handvoll Freunde oder Familienmitglieder, Natur – ob als Holztisch für Treffen mit lieben Menschen oder als Kulisse für das sommerliche Picknick. Die Dänen aber haben diese unspektakulären Bestandteile – trotz oder gerade wegen des oft digitalen und durchgetakteten Alltags – offenbar zu einem ganz eigenen, analogen Lebensgefühl kultiviert.
Einer, der es wissen muss, ist Meik Wiking. Der Politikwissenschaftler forscht am Kopenhagener Institut für Glücksforschung über den Zusammenhang von Wohlbefinden und Lebensqualität. In seinem Buch „Hygge“ geht er dem Phänomen auf den Grund. Und er stellt klar: Zufriedenheit hat nichts mit einem großen Geldbeutel zu tun; Hygge sei vielmehr eine Frage der inneren Haltung – und die könne jeder einnehmen.
„Die besten Dinge im Leben“ gebe es ohnehin umsonst – Gemeinschaftsgefühl etwa lasse sich nicht einfach „machen“. Hygge habe viel „mit dem Erleben und Genießen des gegenwärtigen Augenblicks zu tun“, erläutert Wiking. Zur Entspannung gehört demnach auch, sich selbst gegenüber freundlich zu sein – Kalorienzählen kann man auch an einem anderen Tag.
Dank der guten Work-Life-Balance haben die Dänen auch Zeit für Familie und Freunde. Dienlich sind die üblichen Arbeitszeiten im Nachbarland – um 17 Uhr ist in der Regel Feierabend, Eltern können oft schon um 16 Uhr nach Hause gehen. „Nach Auskunft des OECD Better Life Indexes verfügen die Dänen über mehr freie Zeit als alle anderen OECD-Mitglieder“, stellt Wiking fest.
Ein Grund, dass es sich die Dänen gerne gemütlich machen, mag das Wetter in dem nordeuropäischen Land sein – die lange Dunkelheit im Winter, viele Regentage. Gerade diese Rahmenbedingungen haben offenbar dazu beigetragen, dass die Menschen näher zusammenrücken, das Leben feiern, jeden schönen Augenblick genießen, zufrieden sind. Anlässe für ein hyggeliges Treffen finden die Dänen immer wieder – und wenn nicht, dann lässt man sich einen Grund einfallen: einen Filmeabend im Januar, die erste Wanderung im April, das Pilzesammeln und -kochen im Herbst. Solche gemeinsamen Erlebnisse schaffen aus Sicht von Wiking gemeinsame Erinnerungen, in denen man dann wiederum zusammen schwelgen kann. Hygge sei somit auch „eine Methode, um Glück zu planen“.
Das klingt nach naivem „Friede, Freude, Eierkuchen“. Bedient Hygge also die Sehnsucht der Dänen nach einer heilen Welt, fernab aller Alltagssorgen? Das Leben ist nun mal kein Ponyhof, mag der Deutsche da griesgrämig entgegnen. Aber müssen sich nicht auch die Dänen mit kaputten Waschmaschinen, der Steuererklärung oder dem Wohnungsputz rumschlagen? Wie kann man da an Hygge denken?
Ein aus dänischer Sicht typisch deutscher Denkfehler. Hygge hat etwas mit Prioritäten zu tun: dem Wunsch, eine gute Zeit miteinander zu verbringen. Und diese Zeit nehmen sich die dänischen Nachbarn, auch wenn die persönliche To-Do-Liste lang ist. Hygge werde „unabhängig von Rahmenbedingungen“ gelebt, erklärt ein Sprecher der dänischen Botschaft. „Auch eine alleinerziehende Mutter, die nicht in einer Designerwohnung in einem stylischen Kopenhagener Viertel wohnt, kann Hygge.“ Es gehe um „quality time“ und einfaches Glück. Und das sei auch mit Dosenbier und Spaghetti möglich. Oder mit Brettspielen, einem gemeinsamen Fernseh­abend, am Lagerfeuer oder bei einer Tauschparty.
Gemeinsam entschleunigen, sich auf das Wesentliche im Leben besinnen, den Augenblick genießen – das mutet spirituell an, hat aber nichts mit Religion zu tun. Für Willibald Ruch, Leiter des Instituts für Persönlichkeitspsychologie und Diagnostik an der Universität Zürich, spiegelt Hygge das uralte Thema Hedonismus wider – den Versuch, „positive emotionale Zustände zu maximieren und negative zu reduzieren“.
Bereits griechische Philosophen wie Aristoteles hätten sich mit den Themen Glück und Zufriedenheit auseinandergesetzt; neu sei die wissenschaftliche Auseinandersetzung. Ruch ist einer der renommiertesten Vertreter der Positiven Psychologie. „Empirische Studien von uns und anderen Forschungsgruppen zeigen, dass eine Steigerung des Erlebens von positiven Emotionen mit einer erhöhten Lebenszufriedenheit einhergeht.“ Als eine Art Realitätsflucht vor Trump, Alltagsstress und gefühlter Terrorgefahr sieht der Psychologe Hygge dennoch nicht. „Sich entspannen und genießen muss keine Flucht sein, sondern kann auch ein wichtiger Ausgleich sein zu den weniger angenehmen Seiten des Lebens.“ Man dürfe sich im Alltag durchaus „ruhig mal auf die positiven Seiten des Lebens einlassen, zurücklehnen und genießen“, findet Ruch.

Prioritäten im Leben herausfinden

Mit der Mischung von Geselligkeit und Entspannung sei Hygge zudem auch etwas für Introvertierte, ergänzt Wiking. Als ideale Zusammensetzung bewerten die Dänen ein überschaubares Miteinander von vier bis fünf Menschen; ein guter Rahmen für ein gepflegtes Gespräch, das Beziehung und Freundschaft fördert. Die Glücksforschung habe ein gemeinsames Muster glücklicher Menschen herausgefunden: Auch dank Hygge hätten die Menschen „bedeutungsvolle, positive soziale Beziehungen“, erklärt der Wissenschaftler. Nach Ansicht von Wiking kann Hygge deshalb „unser Glück auf einer alltäglichen Basis fördern“. Es gehe dabei vor allem um eines: „das Beste aus dem zu machen, von dem wir im Überfluss haben: Alltag“.

Meik Wiking: „Hygge. Ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht“. Lübbe, Köln 2016, 288 Seiten, 20 Euro.