In freier Wildbahn hat die gemeine Feldmaus (Microtus arvalis) eine durchschnittliche Lebenserwartung von etwa neun Monaten. Die Ausnahme: Frederick, Kinderbuchheld von Leo Lionni, wird in dieser Erntezeit 50 Jahre alt – und er ist so lebendig und lebenskundlich wie eh und je.
Die Feldmaus ist ein Säugetier aus der Unterfamilie der Wühlmäuse. Sie ist ein tapferer Arbeiter und gehört zu den häufigsten Säugetieren in Mitteleuropa. Die Nestkammern liegen meist unter der Erde. Im Winter bildet sie Nestgemeinschaften. Damit ist aus biologischer Sicht der Erzählrahmen des Kinderbuchklassikers „Frederick“ abgesteckt. Literarisch ist der Plot weniger profan, sondern voller Poesie.
Alle sammeln fleißig, nur Frederick nicht
Frederick, eine Feldmaus mit freundlichem Schlafzimmerblick, lebt mit ihren Leuten in einer alten Mauer auf einem verlassenen Bauernhof. Im Spätsommer sammeln alle schon eifrig Vorräte für den Winter – nur Frederick nicht. Warum bloß sitzt er die ganze Zeit herum? Eine faule Maus? Eine Zeitlang schaut sich die Familie das an – dann stellt sie ihn zur Rede. Verträumt antwortet Frederick, er sammele Sonnenstrahlen, Farben und Wörter für kalte, graue und lange Wintertage. Eine rätselhafte Antwort. Denn Lichtmangel-Depression oder Winterdepression (kurz SAD) war – obschon bereits in der Antike von Hippokrates beschrieben – vor 50 Jahren noch nicht wirklich Thema. Heute weiß man: Neben bedrückter Stimmung, Reduzierung des Energieniveaus und Ängstlichkeit kommen bei SAD für Depressionen untypische Symptome wie Kohlenhydrat-Heißhunger und größeres Schlafbedürfnis hinzu.
Lange jedenfalls kommen die Mauermäuse mit ihren Vorräten durch den Winter. Doch zum Ende wird es eng. Nun schlägt die Stunde von Frederick; nun sind seine Vorräte dran. All die Sonnenstrahlen, die er gesammelt hat, sorgen im Nest für wohlige Wärme. Seine Farben lassen den grauen Spätwinter weniger trist erscheinen, und am Ende reimt er sogar seine warmen Worte. Die Familie ist begeistert: „Frederick, du bist ja ein Dichter!“ – „Ich weiß, ihr lieben Mäusegesichter.“
Das Buch trifft in den bewegten Spätsechziger Jahren einen Nerv. So farbig, so poetisch – das wird in Zeiten jugendgefährdender Schriften und umstrittener TV-Experimente wie der „Sesamstraße“ als pädagogisch besonders wertvoll eingestuft. Die ehrwürdige National Education Association in den USA nimmt „Frederick“ vom Start weg in die Top 100 der Kinderbücher auf.
Fredericks Schöpfer, Leo Lionni (1910-1999), war ein Weltbürger. Als Sohn eines jüdischen Diamantenschleifers und einer Opernsängerin in Amsterdam geboren, zog er mit seinen Eltern schon mit zwölf Jahren nach Philadelphia und kam 1925 mit einigen Umwegen nach Italien. Mit 15 Jahren sprach er fünf Sprachen. Begeistern aber konnte er sich vor allem für Kunst.
Sein Vater sah ihn freilich in der Wirtschaft – und so wurde er, 25-jährig, eher wider Willen mit einer volkswirtschaftlichen Arbeit über den Diamantenhandel promoviert. Doch Lionnis Liebe gehörte der Malerei und Grafik, näherhin den avantgardistischen Ideen des Futurismus. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wanderte er 1939 in die USA aus und reüssierte bald als innovativer Grafiker für Zeitschriften und Magazine sowie als Unternehmensdesigner.
Lionnis Liebe galt der Malerei und Grafik
1945 erwarb Lionni die US-Staatsbürgerschaft – doch trotz seines großen wirtschaftlichen Erfolgs kehrte er 1962 als Künstler nach Italien zurück. Zuvor erschien 1959 mit „Das kleine Blau und das kleine Gelb“ sein erstes Kinderbuch. Das abstrakte Werk handelt von Toleranz und Freundschaft und wurde von der Kritik hoch gelobt. Weitere Erfolge in rascher Folge waren „Stück für Stück“, „Swimmy“ – ein Buch über Mut und Ideenreichtum im großen Meer – und „Alexander und die Aufziehmaus“.
Für seine Bücher wurde Leo Lionni vielfach ausgezeichnet, etwa 1964 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für „Swimmy“. Seine letzten Lebensjahre verbrachte der viel begabte Künstler, parkinsonkrank, in seinem Haus am Golf von Genua und in New York. 1998 erschien seine Autobiographie „Zwischen Zeiten und Welten“. Lionni starb mit 89 Jahren in Radda in Chianti. Sein Frederick lebt noch heute – und hilft kleinen und großen Menschen durch den Winter.
Leo Lionni: Frederick. Jubiläums-Edition mit Mobile. Beltz Verlag, 40 Seiten, ab 3 Jahren, 13,95 Euro.