Mit der Moral ist es wie mit Schokoladeneis. Sie ist gut, aber zuviel schadet. Wie in der Geschichte von Großtante Leah und einer Verwaltungsmitarbeiterin: Leah war während der Nazizeit 16,5 Monate inhaftiert, hat aber – weil es keine 18 Monate waren – trotz schwerer Folgebeschwerden keinen Anspruch auf Entschädigung, Was tut die Frau im Amt? Sie spricht von Verantwortung und Freiheit und macht in dem Antragsformular aus den 16,5 kuzerhand 18 Monate. Und sie lobt die Großnichte, die mit der Großtante den Weg zum Amt gewagt hat: „Luther wäre stolz auf dich.“
Um die zentrale Botschaft des scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck, der die Freiheit des Menschen immer koppelt an dessen Verantwortung, geht es in diesem Buch. Und um das Vorbild Martin Luther, der seine Kritik am Ablasshandel seiner Zeit in 95 Thesen bündelte.
95 spannende neue Thesen – formuliert von 70 Autorinnen und Autoren (darunter auch Margot Käßmann und Heinrich Bedford-Strohm) sowie 25 Jugendlichen – hat der Schriftsteller Wilhelm Genazino zusammengetragen. Thesen, die auf vielfältige Weise das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ausloten, die Orientierung geben und – wie im Fall von Großtante Leah – Denkanstöße dazu, was das heißen kann: Freiheit zur Verantwortung. hei
Wilhelm Genazino (Herausgeber): Freiheit und Verantwortung. 95 Thesen heute. Verlag J. B. Metzler, 252 Seiten, 16,95 Euro.