Die fulminante Neuverfilmung von Mary Shelleys Klassiker führt die Geschichte von Frankenstein und seiner Kreatur auf deren Ursprünge in der Romantik zurück und deckt dabei die Dialektik moderner Wissenschaft auf.
“Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster”, heißt es nach Goyas berühmter Zeichnung, bevor das erste Bild erscheint. Im ewigen Eis geht die Geschichte von “Frankenstein” los. Regisseur Guillermo del Toro lässt sich Zeit für die Exposition, mit einer großen Freude am Detail. Nur die Filmmusik deutet bereits auf noch schlimmere Gefahren hin.
Eine nächtliche Explosion lockt den Kapitän und einen Trupp seiner Männer aufs Eis hinaus. Dort treffen sie auf die Titelfigur des Films, Victor Frankenstein (Oscar Isaac), und wenig später auch auf das monströse Wesen, das er erschaffen hat. Das “Geschöpf”, wie die namenlose Kreatur in der Romanvorlage von Mary Shelley heißt, ist weder Mensch noch Biest und hat seinen Schöpfer bis ans Ende der Welt gejagt.
Mehr als ein Dutzend Mal wurde “Frankenstein” seit der ersten Adaption im Jahr 1910 verfilmt und besonderes durch die Version von James Whale aus dem Jahr 1931 mit Boris Karloff zu einer der ikonischen Figuren des Kinos. Warum es sich trotzdem lohnt, diese Geschichte wieder zu erzählen, beweist Guillermo del Toro schon in den ersten Minuten seiner Neuinterpretation.
Seine Version erinnert vor allem daran, dass der Romantitel “Frankenstein”, mit dem man reflexartig Monströses assoziiert, sich auf die menschliche Hauptfigur bezieht, Victor Frankenstein – eine zerrissene, traumatisierte Figur. Del Toros Frankenstein ist ein psychisch gequälter Charakter und damit ein Fall für den Psychoanalytiker.
Die Idee, aus unbelebtem oder totem Material etwas Lebendiges zu erschaffen, faszinierte schon lange vor dem Roman von Mary Shelley von 1816. Die britische Romantikerin aber war gerade nicht am heute modischen, postmodernen Verständnis für oder gar Mitleid mit dem Monster interessiert, sondern an den zwei Seiten der modernen Wissenschaft, an ihrer Dialektik. Sie machte aus der Figur des künstlichen Menschen eine Metapher für die Wissenschaft und deren Ambiguität.
Shelleys Frankenstein ist ein genialer Arzt, der dem Leben dienen möchte, indem er den Tod besiegt, dann aber begreift, dass er seine Schöpfung nicht mehr kontrollieren kann; als er die Schattenseiten dieses Wesens erkennt, will er es zerstören – doch dafür ist es vielleicht schon zu spät.
Del Toro hat die literarische Vorlage an einigen Stellen behutsam verändert, ohne sie zwanghaft zu aktualisieren. Es geht ihm nicht um einen Diskurs über Zeitgeistiges wie KI oder Biotechnologie; dafür ist er selbst viel zu romantisch veranlagt.
Oscar Isaac spielt diesen genialen Doktor, einen wissenschaftlichen Außenseiter. Weil er Geld braucht, um seine Arbeiten zu finanzieren, schließt er einen Teufelspakt: einen Vertrag zur Instrumentalisierung seiner Forschung, in diesem Fall durch die Kriegswirtschaft. Christoph Waltz verkörpert die dunkle Seite, einen deutschen Waffenfabrikanten, der eigene Interessen verfolgt.
Jacob Elordi als “Kreatur” ist dagegen zu schön, zu mild und auch zu nett, um auf Augenhöhe mit Frankenstein zu agieren. Er reicht nicht an die ikonische Monster-Figur des berühmten Boris Karloff heran.
Mia Goth spielt eine Doppelrolle: einmal Elizabeth, die Verlobte von Frankensteins Bruder, die den emotionalen Kern des Films verkörpert, bevor sie ein Opfer des Monsters wird. Goth tritt in einigen frühen Szenen des Films aber auch als Mutter von Frankenstein auf, was erkennen lässt, dass es del Toro um eine psychoanalytische Interpretation der Frankenstein-Figur geht. Er setzt sehr stark auf die Lesart, dass Menschen ihre Liebespartner nach elterlichen Vorbildern wählen.
Man kann an del Toros “Frankenstein” durchaus bemängeln, dass es ihm bisweilen an Konsequenz fehlt. Dass der Film zu wenig herausarbeitet, was er eigentlich will. Dass er sich manchmal auch nach dem Zeitgeist ausstreckt.
Insgesamt aber ist Guillermo del Toro eine moderne und originelle Neuinterpretation der “Frankenstein”-Geschichte gelungen, die auf hohem Niveau unterhält und von dem wunderbaren Production Design lebt, das so kreativ wie liebevoll mit dem 19 Jahrhundert umgeht.
Der Film ist überdies ein zwingender Gegenentwurf zu dem affektierten Monsterkino, mit dem Yorgos Lanthimos seit einigen Jahren die Arthouse-Szene spaltet. Denn im Gegensatz zu “Poor Things”, der fast in der gleichen Zeit spielt und ebenfalls von einem Wissenschaftler handelt, der Leichenteile zum Leben erweckt, nimmt del Toro die Monster ernst. Er liebt sie, nicht nur sich selbst. Dabei weiß er natürlich, dass man das Goya-Zitat auf zweifache Weise übersetzen kann: Nicht der Schlaf, sondern der Traum der Vernunft gebiert Monster. Hierin liegt die ganze Ambivalenz der Aufklärung, die Guillermo del Toro nicht verraten, sondern romantisch erweitern will.