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Forscher: Junge Geflüchtete mit Problemen für Extremismus anfällig

Nach dem Anschlag von Bielefeld hat der Extremismusforscher Andreas Zick die Notwendigkeit von mehr Prävention unterstrichen. Terrororganisationen würden besonders junge geflüchtete Männer mit psychischen Problemen ansprechen, sagte er in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eine psychosoziale Versorgung für Geflüchtete sei in Deutschland jedoch abgebaut worden.

epd: Bei dem mutmaßlichen Täter des Messerangriffs gibt es offenbar Hinweise auf eine Radikalisierung in Deutschland. Ähnlich hatte es sich bei dem Täter des Anschlags in Solingen verhalten. Was können die Hintergründe sein?

Zick: Im Moment warten wir auf weitere Informationen über die Biografie und Entwicklung des Täters. Radikalisierungen in die extremistische Gewalt können auf längerfristige Faktoren zurückgeführt werden, wie ein Aufwachsen in Gewalt. Die Täter haben viel Gewalt erlebt und nicht verarbeitet – im Gegensatz zu der Mehrheit derer, die geflohen sind.

Wir benötigen auch Informationen über das Umfeld. Es wird nun durch Recherchen klar, dass er sich gegenüber anderen geäußert hat, dass er mit anderen in sozialen Netzwerken kommuniziert hat, die höchstwahrscheinlich in Terrornetzwerke direkt oder indirekt eingebunden sind. Die neueren Terroranschläge und Radikalisierungsprozesse weisen auf weitere Faktoren hin.

epd: Welche sind das?

Zick: Terrororganisationen im Ausland sind wieder aktiv und suchen vermehrt verletzliche Einzelne auf, um sie zu Anschlägen zu motivieren. Der sogenannte IS und andere Zellen sind aktiv. Sie rufen nach Beobachtungen von Behörden und Extremismusprojekten über Netzwerke zu Anschlägen auf. Vor allem junge geflüchtete Männer sind für die Terrornetzwerke interessant, insbesondere jene, die den Anschluss verloren haben, soziale und psychische Problemlagen aufweisen und sich isoliert haben. Leider ist ihre Zahl auch angesichts mangelnder Möglichkeiten gestiegen.

epd: Wie verlaufen die Rekrutierungen?

Zick: Die Täter erhalten in den sozialen Netzwerken ihr Feindbild und ein mögliches Anschlagsziel. Der Täter in Bielefeld wusste wahrscheinlich, wo er die Tat ausüben wollte, weil die Menschen in der Bar „Cutie“ seinem Feindbild entsprechen. Er hasst, auch weil sie Dinge tun, die er sich in der religiösen Radikalität verbietet. Der Hass wird vorher aufgebaut, die Tatmotivation entsteht während der Radikalisierung in den sozialen Netzwerken. Erlebte Vorurteile erleichtern die Propaganda der Terrornetzwerke und den entscheidenden Schritt, der in einer kompletten Distanzierung von der sozialen Realität besteht.

epd: Gibt es für solche Fälle eine wirksame Prävention? Sollten junge Menschen aus Kriegsgebieten engmaschiger psychologisch begutachtet und begleitet werden?

Zick: Zunächst ist zu fragen, welche Bremsen gefehlt haben, die die Radikalisierung verhindern können. Es fällt Terrorzellen leicht, psychisch und ideologisch anfälligen Personen, vor allem jungen Männern, ihr Hassbild und ihre zusammengebastelte Religion zu vermitteln. Die bedarfsgerechte psychosoziale Versorgung für solche Personen, die nach Deutschland geflohen sind, wurde abgebaut, obgleich die Erfolgszahlen dort, wo sie geleistet wird, hoch sind.

In der Schweiz wird trotz stärkerer Abschiebungen zum Beispiel mehr und intensiver in die Integrationshilfe investiert. Auch um Personen, die später ausreisen müssen, für die Gegenwart so auszustatten, dass sie sich nicht radikalisieren.

epd: Wie sieht die Situation in Deutschland aus?

Zick: Es fehlt an sozialer Arbeit, psychologischer Hilfe, an Bremsen für einen entwürdigenden Populismus, den Terrorgruppen aufgreifen. Einige Täter lassen vorher dort, wo sie leben, ihre Feindbilder durchsickern und kündigen Taten an. Das Umfeld weiß aber oft nicht, an wen es sich wenden kann.

Es fehlt auch an einer konsequenten Aufarbeitung von Vorfeldstrafen. Einige Täter fallen vorher in der organisierten Kriminalität, insbesondere Drogenhandel, auf und könnten dort aufgegriffen werden. Andere Täter sind zum Teil psychiatrisch früher auffällig, können aber nicht hinreichend weiterverfolgt werden.

epd: Was wäre jetzt nötig?

Zick: Die Diagnostik der Radikalität kann besser mit Maßnahmen einhergehen, auf Strafverfolgung muss eine entsprechende Maßnahme folgen. Es braucht ein Gesamtmaßnahmenpaket, das nun hoffentlich in der neuen Regierung entwickelt wird. Die Task-Force Islamismus soll ausgebaut werden. Sie müsste auch andere Bereiche wie den Rechtsextremismus und neuere sektiererische Bewegungen umfassen, weil sich extremistische Gruppen gegenseitig anstecken. Wo ein starker Rechtsextremismus ist, ist der Islamismus nicht fern. Wer meint, allein Abschiebungen könnten Radikalisierungen stoppen, liegt angesichts des globalen Terrors und der Mobilität von Terrorzellen falsch.

epd: Anschläge auf feiernde Menschen wie in Bielefeld lösen bei vielen Menschen Unsicherheiten und Ängste aus. Lassen sich mögliche Anschlagsgefahren erkennen oder vermeiden?

Zick: Die Behörden und Politik haben recht, wenn sie darauf hinweisen, dass sie solche Taten nicht hundertprozentig vorhersagen können. Die Personen, die in der Bielefelder Cutie-Bar waren, werden vielleicht bestätigen, dass der Täter „komisch war“, aber sie nicht mit der Tat gerechnet haben.

Andere Länder investieren viel mehr in das Risiko- und Bedrohungsmanagement, arbeiten enger mit anderen Ländern zusammen. Der Terror ist global, daher reichen nationale Strategien und Alleingänge nicht.

epd: Wie kann die von Ihnen geforderte frühe Diagnostik aussehen?

epd: Diese könnte dann in Gefängnissen oder Kommunen, wo anfällige Menschen leben, und auch in Schulen angewendet werden. Wir haben vor Jahren ein eigenes europäisches System zu Diagnostik der Bedrohung von gewaltorientiertem Extremismus mit Ländern entwickelt. Das umfasste eine Ausbildung des Wachdienstes in Gefängnissen. Leider wurde es zwar in den Niederlanden und Belgien weitergeführt, hier aber nicht, weil die Bundesländer sich nicht koordinieren konnten und die Politik die Aufmerksamkeit verloren hat.

epd: Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Zick: Angemessen wäre auch eine Diskussion über die gesellschaftlich angestiegene Gewalt und Menschenfeindlichkeit. Insbesondere islamistisch orientierte Terrorgruppen haben es zu leicht, anfälligen Personen zu zeigen, wie feindselig und verroht die Gesellschaft ist.