Viele Juden und Muslime in Deutschland haben sich nach Ansicht der Gründer der Jüdisch-Islamischen Forschungsstelle in Tübingen nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel noch weiter voneinander abgeschottet. Die Folge sei, dass sich viele vom Leid der anderen Gruppe kaum noch berühren ließen, sagte der Rabbiner und Dozent für Jüdische Theologie, Asher Mattern, dem Evangelischen Pressedienst (epd). „Hier gibt es Milieus, die sich nur noch in ihren eigenen Medien und in um sich selbst kreisenden Diskursen bewegen, die in extremen Formen sogar zu einer Entmenschlichung der anderen Gruppe führen.“
Beide Seiten des Territorialkonflikts im Nahen Osten bedienten sich religiöser Ressourcen und ideologischer Narrative, durch die sie ihre Perspektiven legitimierten. Diese bestimmten fast immer auch die muslimischen und jüdischen Diskurse in Deutschland. „Historische Fakten spielen auf beiden Seiten kaum eine Rolle bei der Meinungsbildung“, sagte Mattern, der am Institut für Ökumenische und Interreligiöse Forschung der katholischen Fakultät Tübingen lehrt. Als Forschungsstelle sei es ihre erste Aufgabe, dies zu durchbrechen.
Neben der Bildung sei vor allem bei jungen Menschen die Begegnung miteinander wichtig. Immer wieder besuche er für das Projekt „meet2respect“ gemeinsam mit einem Imam Schulklassen in Berlin, deren muslimische Schüler oft durch antisemitische Äußerungen aufgefallen seien. Dort stelle er oft fest, dass die Ablehnung ihm gegenüber sofort aufbricht, wenn sie ihn als individuellen Menschen erleben. „Wenn sie erfahren, welches Leid wir Juden in der Geschichte, aber auch zum Beispiel im Kontext von Attentaten durch Muslime erfahren haben, und sie aber auch erleben, dass ich das von ihnen erfahrene Leid sehe und die israelische Politik kritisch reflektieren kann, dann bin ich plötzlich nicht mehr der jüdische Feind, sondern der Mensch Asher Mattern“, sagte der jüdische Theologe.
Die Professorin für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie in Tübingen, Fahimah Ulfat, betonte, es sei aus pädagogischer Sicht wichtig, dass muslimischen Jugendlichen im Unterricht nicht das Gefühl gegeben werde, sie dürften sich zur aktuellen Krise nicht äußern. „Sondern, dass wir stattdessen sichere Räume schaffen, in denen sie sich mit der Thematik auseinandersetzen können.“
Auch mit ihren Studierenden habe sie über die derzeitige Situation diskutiert. „Wir sprachen offen über ihre Zerrissenheit und Verzweiflung und sie konnten durch die verschiedenen Informationen und Hintergründe ihre Sichtweisen differenzieren.“ Ihre pädagogische Botschaft konzentriere sich darauf, wie man mit Situationen umgeht, wo es keine vollkommen ‘gute’ Seite gibt und in denen moralische Dilemmata ein abschließendes Urteil oft unmöglich machen.
Initiativen wie die Jüdisch-Islamische Forschungsstelle und „meet2respect“ seien entscheidende Schritte in die richtige Richtung. „Doch es ist klar, dass wir noch mehr Ressourcen brauchen, um solche Bildungs- und Begegnungsoffensiven weiter auszubauen und nachhaltig zu etablieren“, so Ulfat. (2649/07.11.2023)