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Ex-Bundestagspräsident Thierse: Haben keine Demokratiekrise

Sieben Jahre stand der SPD-Politiker Wolfgang Thierse als Präsident an der Spitze des Bundestags. Streit und Wahlkampf sind für ihn “Inbegriff der Demokratie”. Schnelle Lösungen für komplexe Probleme gebe es aber nicht.

Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sieht trotz Ampel-Ende und kommender Neuwahlen keine Demokratiekrise in Deutschland. “Die Situation ist keine Katastrophe, denn wir haben Regeln in unserer Demokratie für die Lösung von Regierungskrisen, wir haben Regeln für den demokratischen Wechsel”, sagte der SPD-Politiker am Mittwoch dem Bayerischen Rundfunk (BR). Streit und Wahlkampf seien “Inbegriff der Demokratie”.

Die in der Verfassung und im Parteiengesetz festgelegten Regeln funktionierten, erklärte Thierse. Was aber derzeit in Deutschland und auch in allen vergleichbaren Ländern Europas zu erleben sei, sei, dass das Vertrauen in demokratische Institutionen und Politiker abgenommen habe. Das liege an den dramatischen Veränderungen, die die Menschen derzeit erlebten. Unsicherheit, Ungeduld und Wut machten sich breit. Zugleich habe die Erwartung nach schnellen, einfachen Lösungen, “ja fast nach Wundern”, zugenommen.

Gleiches Problembewusstsein nötig

Demokratie setzt nach den Worten des Sozialdemokraten voraus, dass es ein annähernd gleiches Problembewusstsein und eine Realitätswahrnehmung bei den Menschen gibt. Wenn die einen fernsähen, Radio hörten und Zeitung läsen, die anderen aber nur noch im Internet in ihren Blasen seien, dann zersplittere die Problem- und Wirklichkeitswahrnehmung. Das gelte dann auch für demokratische Vorschläge von demokratischen Parteien. Die notwendige Kompromiss- und Konsensbildung, von der die Demokratie lebe, werde somit erschwert, gab Thierse zu bedenken.

Der 81-jährige SPD-Politiker war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und im Anschluss bis 2013 dessen Vizepräsident. Der Katholik gehörte zudem viele Jahre dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an.