Ellen Radtke und ihre Frau betreiben seit Jahren einen Youtube-Kanal – erfolgreich. Für die 40-Jährige ist klar: Die Vorteile der virtuellen Vernetzung überwiegen die Nachteile deutlich.
Ein Fan tritt an Ellen Radtke heran: Ob er ein Selfie mit ihr machen dürfe? Radtke hat im Netz, aber auch in der realen Welt eine kleine Fangemeinde. Das zeigte sich auch beim Evangelischen Kirchentag in Hannover, wo Radtke vor kurzem auf einem Podium zum Thema Soziale Medien gesessen hat. Die 40-Jährige ist evangelische Pastorin einer Gemeinde in Osnabrück und fest überzeugt: “Mit dem, was wir sagen wollen, müssen wir dahin gehen, wo die Menschen sind.”
Radtke ist zu Youtube gegangen: Seit Anfang 2020 betreibt sie dort mit ihrer Frau Steffi Radtke den Kanal “Anders Amen”. Inzwischen haben die beiden knapp 35.000 Abonnenten; mehr als 5,7 Millionen mal wurden ihre Videos angeschaut. Ihre Themen drehen sich rund um Kirche, Regenbogenfamilien und LGBTQIA*, also um lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle/Transgender-, queere, intersexuelle und asexuelle Menschen. Denn Radtke selbst überkam nach eigenen Worten das Grausen, als sie noch vor der Corona-Pandemie nach christlichen Inhalten in sozialen Medien Ausschau hielt.
“Da ging es nur darum, dass Sex vor der Ehe die Hölle bedeutet und darum, wie man Menschen Homosexualität austreibt”, berichtet sie. Ihre Schlussfolgerung stand fest: “Ich dachte wirklich, das darf nicht sein. Wir müssen dem etwas Gutes, Positives entgegensetzen.” Gesagt, getan. Der Zulauf bei “Anders Amen” sei schon zu Beginn enorm gewesen. Ihr gesetztes Ziel, 1.000 Follower in einem Jahr zu erreichen, erfüllte sich binnen der ersten Woche. Die Corona-Pandemie gab dem Kanal, den sie kurz vor Ausbruch gegründet hatte, weiteren Aufschwung.
Wie viele andere Influencer bekommen aber auch die Radtkes Hass ab. Ellen Radtke kann das relativieren, sie sagt: “Idioten gibt es überall.” Böse Briefe habe sie auch schon per Post bekommen, das sei nicht allein dem Internet vorbehalten. Anstatt auf die wenigen negativen Rückmeldungen zu schauen, blickt sie lieber auf die vielen guten – sie machten rund 95 Prozent aller Feedbacks aus. “Den Umgang damit muss man natürlich lernen”, sagt die Pastorin. Anfangs habe ein negativer Kommentar 99 gute aufgewogen. Heute könne sie damit besser umgehen.
Radtke findet es wichtig, über die problematischen Seiten sozialer Medien zu sprechen, zum Beispiel über Hassrede und Mobbing. “Man muss gut auf sich selbst aufpassen”, betont sie. Sie ist aber dennoch überzeugt, dass man in den Netzwerken viel bewirken kann. “Wir können dort in die Welt gehen, und das ist auch der Auftrag der Kirche.” Ein Bashing der Sozialen Medien finde sie “Quatsch”.
Auch Medienwissenschaftlerin Dagmar Hoffmann sagt: “Wer meint, ohne Soziale Medien wäre die Welt eine bessere, der irrt.” Sie plädiert für einen aufgeklärten Umgang mit Instagram und Co., denn: “Die digitale Lebenswelt ist da und geht auch nicht mehr weg.” Doch Nutzer könnten sie aktiv gestalten – durch “liken, teilen, reposten oder kommentieren”. Bewegungen wie “MeToo” seien etwa auch durch das kollektive Teilen des gleichnamigen Hashtags so erfolgreich geworden. “Wenn viele diese Hashtags teilen und darüber dann berichtet wird, wird es ein gesellschaftliches Thema”, erklärt Hoffmann.
Auch die Radtkes sehen in Youtube, Instagram und Co. vor allem Chancen. Ellen Radkte lässt sich sogar zu dem Ausspruch “Ich liebe Soziale Medien” hinreißen. In ihren Videos haben die Mütter zweier Kinder unter anderem über ihre Kinderwunschbehandlungen berichtet. “Gerade von Hetero-Paaren bekamen wir so viele Rückmeldungen. Für viele war unsere Offenheit befreiend”, berichtet Ellen Radtke. Auch hätten sich viele homosexuelle Menschen zuerst ihnen gegenüber geoutet, in einem offenbar sicheren Umfeld. Zudem hätten Opfer sogenannter Konversationstherapien bei “Anders Amen” erstmals davon gehört, dass man schwul, lesbisch oder bisexuell sein dürfe.