Was besonders schräg ist, gibt die besten Interaktionen: Warum Social Media Wahrheiten und Verhaltensweisen verdreht, erklärt ein Medienethiker. Er hat Tipps, was dagegen hilft.
Plötzlich gilt Kontrollwahn als Fürsorge und Alkoholismus als attraktiv: Experten warnen vor verdrehten Maßstäben in Sozialen Medien. “Wir erleben seit etlichen Jahren eine Zunahme von Geschichten, die die Wahrheit verdrehen, erfunden sind oder schlicht die traditionellen, etablierten Verhaltensnormen auf den Kopf stellen – weil sie sich online besser ‘verkaufen’ lassen und größere Aufmerksamkeit auf sich ziehen”, sagte Oliver Zöllner der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Montag in Stuttgart.
In den Sozialen Medien beobachten Influencer diesen Vorgang. “MissGeorgiaCavallo” analysiert in ihrem Youtube-Video “Wenn ‘Toxisch’ zum Trend wird – Wie sich unsere Generation nach und nach selbst zerstört”, wie auf TikTok zunächst schlechte Merkmale oder schräge Verhaltensweisen geradezu inflationär als “toxisch” oder “red flag” (rote Flagge, hauptsächlich bei Social Media oder im Dating-Bereich benutzt) für Beziehungen definiert werden. Sie schildert, diese “red flags” würden anschließend in “Bestenlisten” zusammengefasst. Und als Spitzenreiter dieser Listen gälten Kontrollwahn und Alkoholismus dann als positive Merkmale.
Zöllner forscht am Institut für Digitale Ethik (IDE) der Hochschule der Medien in Stuttgart. Er erklärt dieses Phänomen mit dem Geschäftsmodell von Social Media, das in der Produktion von Daten bestehe. Diese Daten würden von den Nutzern selbst durch Interaktion produziert, indem sie also Inhalte posten, liken, teilen, weiterleiten und kommentieren. “Je extremer, kontroverser oder schriller solche Inhalte sind, desto besser ist das für das Geschäftsmodell der Plattformbetreiberfirmen, denn sie können dann mehr und größere Datensätze ‘ernten’ und auswerten.”
Als Mittel gegen solche Verdrehungen empfiehlt der Medienethiker, selbst nachzudenken. “Was suggeriert mir die Geschichte, die ich bei Social Media sehe, eigentlich wirklich? Ist das Gesagte sinnvoll? Stimmen die Behauptungen überhaupt? Oder will mir jemand einen Bären aufbinden?” Außerdem solle der kritische Nutzer sich fragen, wer eigentlich der Absender der Story sei und ob diese Person vertrauenswürdig ist. “Oder will mich möglicherweise jemand manipulieren?”
Besorgten Eltern empfiehlt Zöllner, mit ihren Kindern zu sprechen: “Interessieren Sie sich aktiv für das, was Ihre Kinder auf TikTok machen und erleben – und wem sie folgen. Und wenn Sie das Gefühl haben, Ihre Kinder sitzen einer fragwürdigen Geschichte oder komplettem Unfug auf, sprechen Sie auch hierüber mit ihnen.” Wichtig sei dabei auch herauszufinden, warum den Kindern dieses Thema oder jene Geschichte so wichtig oder attraktiv erscheint. Bei Bedarf sollten Eltern aus seiner Sicht nicht zögern, professionelle Hilfe bei seriösen und kompetenten Expertinnen und Experten zu suchen.