Hänsel und Gretel werden allein im Wald gelassen, Rapunzel wird in den Turm gesperrt und ein Frosch an die Wand geschmissen. Märchen sind veraltet, brutal und gruselig, sagen Kritiker. Passen solche Geschichten noch in die heutige Zeit? „Auf jeden Fall“, findet die Märchenerzählerin Hanna Schilling, die zum Vorstand des Märchenforums Hamburg gehört. Märchen prägen bis heute Filme, Serien und Bücher. „Vor allem in der Vorweihnachtszeit sind sie immer sehr beliebt“, freut sich die 76-Jährige mit den kurzen knallroten Haaren. Dieses besondere literarische Genre sei trotz kritischer Debatten nie verloren gegangen.
Am liebsten erzählt Schilling aus der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“, die Jacob und Wilhelm Grimm zwischen 1812 und 1858 herausgegeben haben. Diese Märchensammlung gilt als die erfolgreichste der Welt, ursprünglich war sie für Erwachsene gedacht. „Natürlich sind das alles keine realen Geschichten, die genauso passiert sind“, sagt sie und blättert im dicken Buch. „Wir müssen Märchen symbolisch verstehen.“ Es habe nie eine Hexe gegeben, die Kinder im Wald gegessen hätte.
Märchen vermitteln wichtige Botschaften
Figuren wie Hexen oder böse Stiefmütter seien Bilder für die Lebenserfahrungen aller Menschen, ihre elementaren Ängste und Wünsche. Sie helfen, mit diesen bedrohlichen Gefühlen umzugehen. Und am Ende laute die zentrale Botschaft: „Egal, wie groß die Not ist, du kommst da durch.“ Heldinnen und Helden der Geschichten stammen oft aus einfachen Verhältnissen, aber sie werden aktiv, ziehen in die Welt hinaus und übernehmen Verantwortung. Schilling: „Wer nur abwartet, wird nicht belohnt.“
Obwohl die Botschaft „Nimm dein Schicksal selbst in die Hand“ durchaus pädagogisch wertvoll ist, machen heute viele Eltern wegen der Grausamkeiten einen Bogen um Märchenbücher. Sie wollen ihre Kinder schützen, Schilling mag dieses „in Watte packen“ nicht: „Das Leben ist nicht nur heile Welt.“ Nicht zuletzt habe man bei über 200 von Grimms Märchen eine große Auswahl. „Nicht jedes Märchen eignet sich für jedes Kind“, sagt Oliver Geister, Märchenpädagoge, Lehrer und Uni-Dozent aus Münster.

Er beobachtet, dass Kinder mit grausamen Märchenszenen weniger Probleme haben als Erwachsene. Das „Böse“ sei meist eine existenzielle Gefahr für den Märchenhelden oder die -heldin, die erfolgreich bekämpft und gebannt wird. „Kinder verstehen die Symbolsprache, Erwachsene nehmen vieles eher wörtlich“, sagt Geister. Gerade die Konfrontation mit Bösem könne Kindern helfen, bestimmte Entwicklungsphasen zu bewältigen.
Besonders kritisch werden heute Rollenbilder gesehen
Es gibt die eifersüchtige Stiefmutter, den bösen Wolf und das schlafende Dornröschen, das nach 100 Jahren vom tapferen Prinzen wachgeküsst wird. „Märchen sollten nicht zu sehr auf Rollenklischees reduziert werden“, findet Erzählerin Schilling. Es gebe genauso viele Frauen in Märchen, die Männer erlösen, wie Männer, die Frauen erlösen. In „Die sieben Raben“ rettet die Schwester gleich alle sieben Brüder.
In Verruf kamen Grimms Märchen auch, weil sie von den Nationalsozialisten gezielt für ihre Propaganda genutzt wurden. Einige Märchen wurden sogar umgeschrieben oder gezielt uminterpretiert: „Die Nazis dichteten der Figur Rumpelstilzchen jüdische Attribute an, machten ihn zum Schurken und stellten ihm eine blonde, blauäugige Müllerstochter gegenüber“, erklärt Pädagoge Geister. Dabei seien Grimms Märchen alles andere als ur-deutsche Geschichten. „Sie werden weltweit in verschiedenen Varianten erzählt“, sagt der 49-Jährige.
Grundsätzlich könnten Märchen vielseitig interpretiert werden, weiß Geister. Das Märchen Rumpelstilzchen zeige beispielsweise, wie Gier, Macht und Geheimnisse oft missbraucht werden, um andere zu manipulieren. Aktuelle Themen, findet er. Mit seiner Schulklasse inszenierte er die Geschichte auch schon mal als Gerichtsverhandlung, in der der lügende Müller und der gierige König angeklagt wurden. Auch in Computerspielen würden Märchen vermittelt. Dennoch hofft er, dass Kinder und Jugendliche irgendwann bei den Original-Geschichten von den Brüdern Grimm landen.
Märchen erzählen und sie zu hören, tut einfach gut
Am besten werden Märchen durch mündliches Erzählen weitergegeben, findet Schilling. Nur so würden Menschen „eigene Bilder im Kopf entwickeln“. Aber können Kinder, die im Sekundentakt Tiktok-Filmchen weiterwischen, überhaupt noch zuhören? „Ja! Das ist kein Problem“, sagt Schilling, die bei Auftritten die Märchen nicht vorliest, sondern frei erzählt. „Ich muss mein Publikum sehen können, da passiert ganz viel zwischen den kleinen und großen Zuhörern und mir.“