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“Es ist dieser Geruch der Verunsicherung und Angst in der Luft”

Die Gießener Politikwissenschaftlerin Dorothée de Nève hält die Neuwahlen, das Zerbrechen der Ampel-Koalition und die Gründung neuer Parteien nicht unbedingt für ein Krisensymptom. Um die Demokratie zu stabilisieren, brauche es jedoch neue Formen der politischen Teilhabe, sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).

epd: In vielen Ländern gibt es ein Erstarken rechtspopulistischer Parteien und Führungspersonen. Wie bewerten Sie die Situation, auch in Deutschland?

Dorothée de Nève: Es gibt in Deutschland eine starke Tendenz, die aktuellen politischen Entwicklungen mit den Krisen der Ampelkoalition und dem Erbe der Ära Merkel zu erklären. Tatsächlich sind die Ursachen jedoch viel komplexer, und dieser Rechtsruck manifestiert sich weit über Deutschland und Europa hinaus. Der Rechtsruck ist einerseits eine Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierungskrisen und -ängste sowie auf die mangelnde Problemlösungsfähigkeit politischer Systeme. Verstärkt wird dies durch die wachsende soziale Ungleichheit, die Neiddebatten und Verteilungskämpfen den Nährboden bietet. Andererseits gab es schon immer einen bestimmten Anteil der Bevölkerung, der rassistische und andere antidemokratische Einstellungen hegte. Für dieses latente Einstellungsspektrum gibt es nunmehr im Parteienwettbewerb eine neue Bandbreite politischer Angebote. Allerdings geht es dabei längst nicht mehr „nur“ um Kritik an herrschenden Zuständen – vielmehr werden demokratische Grundprinzipien infrage gestellt und ausgehöhlt.

epd: Am 23. Februar wird der Bundestag neu gewählt. Erwarten Sie dauerhafte Veränderungen im Parteiensystem?

de Nève: Demokratische Wahlen erfüllen unter anderem eine Kontrollfunktion. Der Machtwechsel ist grundsätzlich möglich. Mit Blick auf die aktuellen Umfragewerte erwarten wir in Deutschland mit der Wahl am 23. Februar einen Machtwechsel. Insofern schlägt jetzt das Pendel erstmal wieder in Richtung der Christdemokraten. Grundsätzlich ist dies mit jeder nachfolgenden demokratischen Wahl wieder veränderbar. Wenn wir indes die parteipolitischen Entwicklungen jenseits deutscher Grenzen zur Kenntnis nehmen, dann stellen wir fest, dass sozialdemokratische und liberale Parteien nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern in der Defensive sind.

epd: Warum ist das so?

de Nève: Der Sozialdemokratie fällt es offenkundig schwer, neue Antworten auf den alten Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu finden, die zu den aktuellen Bedingungen der Märkte und Lebensbedingungen passen. Und die Liberalen haben jenseits der Verbreitung marktliberaler Ideen Schwierigkeiten, den Gedanken der Freiheit neu zu bestimmen und eine für breitere Bevölkerungsschichten glaubwürdige Erzählung der Wohlstandssicherung zu präsentieren.

epd: Es wird ja derzeit oft an die Weimarer Republik zwischen 1918 und 1933 erinnert, als viele kleine Parteien keine stabilen Mehrheitsverhältnisse zustande brachten und den Weg in die Katastrophe bahnten. Sehen Sie heute eine ähnliche Gefahr?

de Nève: Es stimmt, die Vergleiche mit der Weimarer Zeit sind allgegenwärtig. Ich denke, es ist wichtig, dass wir dabei etwas differenzieren: Eine Dreier-Koalition wie die Ampel und die Gründung neuer Parteien sind keine gefährlichen Symptome für eine drohende Destabilisierung der Demokratie. Vielmehr spiegelt dies ja auch die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger, die sich von etablierten Parteien zuweilen nicht mehr angemessen repräsentiert fühlen und die auch ein wechselhaftes Wahlverhalten aufweisen. Wenn verkrustete Strukturen aufbrechen, kann dies für die Demokratie auch eine Chance sein. Instabilität ist nicht unbedingt krisenhaft.

epd: Warum gibt es trotzdem diese Warnungen?

de Nève: Die Vergleiche mit Weimar haben noch eine andere Dimension: Es geht um eine atmosphärische Wahrnehmung. Für viele Menschen sind die aktuellen sozioökonomischen Verunsicherungen bedrohlich. Sie haben Angst vor tiefgreifenden Veränderungen, vor Gewalt und Katastrophen. Es ist dieser Geruch der Verunsicherung und Angst in der Luft. Es gibt offenkundig einen Mangel an Zuversicht und Vertrauen.

epd: Welche Ideen werden aktuell diskutiert, um die westlichen Demokratien zu stabilisieren?

de Nève: Wir brauchen neue Ideen und Wege, um Allianzen wieder zu beleben oder zu bilden. Es gibt inzwischen viele Parteien, die beispielsweise den europäischen Gedanken ablehnen und die Solidarität aufkündigen. Vor dem Hintergrund grenzüberschreitender Probleme, wie etwa der Klimawandel und globale Konkurrenz, sind indes nationale Alleingänge nicht Erfolg versprechend. Insofern bin ich davon überzeugt, dass wir die europäische Idee stärken und leben müssen.

epd: Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Neo-Demokratie. Was ist damit gemeint?

de Nève: Die Idee der Neo-Demokratie ist es, dass wir bestehende demokratische Strukturen und Prozesse neu beleben. Dazu würde etwa gehören, dass Parteien es ihren Mitgliedern wieder verstärkt ermöglichen, politische Entscheidungen aktiv mitzugestalten. Jenseits der Parteien geht es darum, auch andere Formen der politischen Teilhabe, etwa im Klimaschutz oder in der Sozialpolitik, als gleichwertiges Engagement von Bürgerinnen und Bürgern wertzuschätzen. Es gibt viele Formen des gesellschaftlichen und politischen Engagements, die zur Lösung akuter Probleme beitragen. Dazu gehören etwa die ehrenamtliche Arbeit für sozial benachteiligte und ausgegrenzte Gruppen, die Entwicklung innovativer Konzepte zur Energieversorgung sowie neue digitale Tools, die grenzüberschreitende Vernetzungen und Kooperationen ermöglichen.