Es gibt Rollen, die sind schwer zu ertragen. Jungen und Männer, die von sexueller Gewalt betroffen sind oder waren, „stehen unter einem starken Druck, kein Opfer zu sein“, sagt Barbara Behnen, eine der Leiterinnen der Beratungsstelle Wildwasser in Gießen. Studien gingen davon aus, dass jede zehnte männliche Person sexualisierte Gewalt erlebt. Seit Anfang 2023 bietet Wildwasser Betroffenen eine Beratung an. Die Einrichtung ist eine von vier Beratungsstellen, die das Land Hessen nach einem Landtagsbeschluss von 2022 finanziert.
Das alte Rollenklischee vom starken Mann und von Jungen, die nicht weinen, führt noch immer dazu, dass von Gewalt Betroffene mit niemandem über das Erlittene sprechen. Opfer zu sein, würde ihre Männlichkeit radikal infrage stellen, sagt die Pädagogin und Kinder- und Jugendtherapeutin Behnen. In der Folge vertrauen sie sich niemandem an, akzeptieren das Gefühl von Einsamkeit und Alleinsein, nur um nicht als „Weichei“ oder „Muttersöhnchen“ dazustehen. „Für Jugendliche ist das die Hölle“, sagt Behnen.
Vielen Jugendlichen fällt es auch schwer, etwas als Gewalt zu erkennen, was in ihrer Freundesgruppe passiert, erklärt Emily Köhler, Sozialarbeiterin bei Wildwasser in Gießen. Demütigende sexuelle Handlungen wie etwa ein durch die Gruppe verursachter Zwang, gemeinsam zu masturbieren, sich in den Hoden zwicken oder mit Gegenständen penetrieren zu lassen, würden abgetan als „burschikoses“ Benehmen in Jungsgruppen.
Neben der Beratung für Einzelne und eine Selbsthilfegruppe für Betroffene hat der Verein Wildwasser deshalb auch sein Präventionsangebot ausgebaut. Köhler besucht Schulklassen und Wohngruppen, um gemeinsam mit den Jugendlichen herauszufinden, was für sie Partnerschaft bedeutet, welche Werte sie haben und auch, wo sie Hilfe finden können. Sie versuche, mit den Jugendlichen spielerisch ins Gespräch zu kommen und zu vermitteln, was in einer Beratung passiert, sagt die Sozialarbeiterin. Die jungen Menschen sollen lernen zu unterscheiden zwischen einer „witzigen Challenge“ und seelischer Quälerei.
Nach den Worten von Emily Köhler brauchen Betroffene Empathie. Sie stellt in der Beratung nicht infrage, was ihr Betroffene erzählen, sie braucht weder einen Arztbericht noch detailreiche Schilderungen. Sie hört zu und hilft, Gewaltstrukturen zu verstehen und Rollenklischees zu erkennen. Die Jugendlichen oder Männer sollen sagen dürfen: „Aua, mir tut was weh, hilf mir mal“, beschreibt Therapeutin Behnen.
Die Versorgungslage für Jungen und Männer sei nicht ausreichend gewesen, sagt Johannes Höing von der Landeskoordinierungsstelle der Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend. Das Land Hessen versuche, eine Versorgungslücke zu schließen. Die mit jeweils 95.000 Euro pro Jahr finanzierten Anlaufstellen befinden sich neben Wildwasser in Gießen bei Pro Familie Darmstadt/Bensheim, bei faX in Kassel und bei Wildwasser in Wiesbaden.
Die beim Paritätischen angesiedelte Landeskoordinierungsstelle unterstütze beim fachlichen Austausch der Beratungsstellen, bei der Entwicklung von Qualitätsstandards und bei der Öffentlichkeitsarbeit. In den Beratungsstellen laufe die Arbeit zum Teil erst an und müsse sich etablieren, sagt Vera Geißler, Leiterin der Landeskoordinierungsstelle. Bis die Betroffenen sich melden, brauche es Zeit. Viele Menschen sehen Männer nur als Täter, nicht als Opfer, sagt sie.