Bielefeld/Freistatt. Eine Gruppe von sieben, eine Frau und sechs Männer, umkreist Lucy. Die steht aufrecht, ihre wasserblauen Augen nach vorn gerichtet. „Schande, es ist eine Schande“, klagt die 21-Jährige. „Was man für Wohnungslose macht, wie man sie auslacht, zu viele Vorurteile ziehen eine lange Meile!“ Kurz spickt sie auf den Zettel in ihrer Hand, bevor sie fortfährt. „Wir sollten etwas ändern, weg mit den Außenrändern!“, ruft Lucy mit ausgestrecktem Zeigefinger.
Es ist eines der wenigen persönlichen Teamtreffen des Projekts „Power to the people“, das die Corona-Pandemie zulässt: Wohnungslose und einst Wohnungslose spielen Straßentheater. Die drei Frauen und 14 Männer der Gruppe kommen aus Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen. Einige waren wohnungslos, haben aber mittlerweile eine eigene Wohnung, einige leben in einer Wohngruppe, zwei auf der Straße. Zusammen wollen sie ein festes Ensemble werden.
Verdeckte Obdachlosigkeit sichtbarer machen
„Wir wollen auf die Bühne bringen, was Wohnungslose bewegt, damit die Leute mit dem Thema in Berührung kommen und ihnen klar wird, es kann jeden treffen“, sagt der 79-jährige Werner Franke aus Berlin, der schon Straßentheater-Erfahrung mitbringt. Initiator des Projekts ist der Verein „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“, Kooperationspartner die Theaterwerkstatt Bethel in Bielefeld, eine Einrichtung der evangelischen v. Bodelschwinghschen Stiftungen.
Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) sind rund 678.000 Menschen in Deutschland ohne feste Bleibe, im Durchschnitt sind sie zwischen 30 und 39 Jahre alt. „Power to the people“-Koordinator Dirk Dymarski will den Blick verstärkt auf die verdeckte Obdachlosigkeit lenken: „Das sind die, die in der Einkaufszone nicht auffallen, nach außen gepflegt, aber sie wissen oft nicht, wo sie nachts schlafen können“, erzählt er aus eigener Erfahrung.
Hier können Wohnungslose ihre Emotionen rauslassen
Wie er so dasteht, in seinen hellen Jeans, dem modischen Trikot-Shirt und seinem verschmitzten Lächeln glaubt man kaum, dass er 16 Jahre wohnungslos war, vier Jahre verbrachte er „auf Platte“. Heute lebt der 45-Jährige in einer Wohngruppe des Betheler Stiftungsbereichs Nord im niedersächsischen Freistatt, wo die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ ihren Sitz hat. An der Theaterarbeit schätzt Dymarski das Gruppengefühl: „Da kann ich die Emotionen rauslassen, die seit langem in mir schlummern.“
Drei Jahre hat er mit daran gearbeitet, das Projekt möglich zu machen. Das veranschlagte Budget von 25.000 Euro pro Jahr wird zum Großteil vom Fonds Sozialkultur in Bonn finanziert. „Als sich eine Deckungslücke von 5.000 Euro auftat, hat das Team Maria Loheide vom Vorstand der Diakonie Deutschland angerufen, die war sofort bereit zu helfen“, erzählt Dymarski.
Szenen aus dem Alltag von Wohnungslosen
Seit dem Frühjahr hat die Bielefelder Theaterpädagogin Pia Ringhoff an vier Workshop-Terminen – drei davon online – mit dem Team verschiedene Szenen entwickelt. „Das Konzept sieht vor, sie zu einer Collage aus Performances, wiederkehrenden Themen und Musik zu verweben“, erläutert sie.
Die Szenen handeln etwa davon, psychisch krank zu werden und alles zu verlieren, von Gesprächen mit Mitarbeitenden auf Ämtern, die vom Schicksal anderer scheinbar unberührt bleiben, oder von Gewalt auf der Straße. Auch Mut machende Szenen sind dabei: Einer jungen Wohnungslosen wird erstmals Vertrauen entgegengebracht und sie erhält die Chance auf ein WG-Zimmer.
Letztlich gehe es um Respekt, sagt Darstellerin Bianca: „Wir haben genauso Träume und Wünsche wie alle anderen Leute.“ Die Straße sei eine gute Schule, um sich Gehör zu verschaffen, meint der Sozialpädagoge Joachim Wondrak. „Man muss klar und deutlich sein, sonst laufen die Leute einfach weiter.“ Der Wissenschaftler von der Hochschule Fulda hat mit seiner Dissertation „Aspekte der Theaterarbeit mit unfreiwilligen Subkulturen“ ein Standardwerk zum Thema verfasst.
Städtische Theaterprojekte sind vielerorts etabliert
Mit „Kultur am Rande“ sei 1988 eines der ersten Theaterprojekte mit Wohnungslosen in Esslingen bei Stuttgart entstanden, mit „Unter Druck“ und „Ratten 07“ in Berlin folgten Anfang der 90er weitere. Alle drei bestehen bis heute, organisieren sich als Verein oder Genossenschaft selbst und sind laut Wondrak eine feste Größe im Kulturbereich ihrer Städte geworden.
Mit ihren biographisch gefärbten Stücken wollten die wohnungslosen Laiendarsteller mit dem negativen Bild von Obdachlosen in den Medien und der Gesellschaft aufräumen, erklärt der Forscher. Entscheidend sei: „Die Aufführungen müssen einen eigenen ästhetischen Wert haben, sonst droht Gefahr, dass die Gruppe ausgestellt wird.“
Sich zeigen, bewegen und Tanzen
Die Ensemblemitglieder nähmen dabei auch eine Menge mit: „Der Zugang zu den eigenen Gefühlen führt zu Selbstreflexion und -vertrauen, sie erfahren Bestätigung durch das Publikum, haben Aufgaben und Verpflichtungen, sind einfach am Start.“
„Power to the people“ sei etwas Besonderes, sagt er, „weil erstmals Menschen aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands zusammenkommen“. Theatermacherin Ringhoff lobt die Experimentierfreude ihrer Darstellerinnen und Darsteller. „Die haben alle Bock, sich zu zeigen, zu bewegen und zu tanzen.“
Einen ersten spontanen Auftritt hatte die Gruppe auf einem Klimafestival Mitte Juli in Hannover. Am 11. September erwartet sie ein größeres Publikum in Leipzig: Zum „Tag der Wohnungslosen“ spielen sie auf Einladung der örtlichen Diakonie und der AG „Recht auf Wohnen“ in den Straßen der sächsischen Stadt. „Es wird einen Blumenstrauß an Emotionen geben“, verspricht Ringhoff. (epd)