Popmusik in einer evangelischen Gemeinschaft? Gar nicht so einfach, erzählt der Musiker Volker Bertelmann alias „Hauschka“. Mit Anke von Legat sprach er über seinen Werdegang als Künstler.
Ihr Instrument, das Klavier, sollen Sie in einer Kirche entdeckt haben …
Ja, bei einem Konzert in der Evangelischen christlichen Gemeinschaft am Ginsterweg in Kreuztal. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde Chopin gespielt. Das war für mich eine ganz tiefe Berührung, fast wie ein Erweckungserlebnis. Bis heute ist das Klavier für mich so etwas wie Heimat.
Und dann?
Dann habe ich meinen Eltern gesagt: Ich will Klavier spielen lernen! Das war nicht so einfach, denn wir hatten kein Klavier. Schließlich hat meine Großtante ein gebrauchtes besorgt. Sobald ich aus der Schule kam, habe ich mich davorgesetzt und gespielt – und damit meine Geschwister ganz schön genervt.
Wie kam es, dass Sie ein Konzert gerade in einer Kirche gehört haben?
Meine Familie gehörte zu der evangelischen Gemeinschaft, die sich dort traf. Die war Teil des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes und hatte auch enge Beziehungen zur Landeskirche. Gottesdienst, Jungschar, Flötenkreis, Jugendchor – das alles habe ich mitgemacht. Ich glaube, es gab wenige Tage, an denen ich nicht in der Kirche war.
Hat Sie das geprägt?
Ja, natürlich. Musikalisch bin ich mit Kirchenmusik groß geworden, und Glaube ist mir bis heute wichtig. Ich bin sehr froh über diese Prägung im Siegerland. Allerdings habe ich mich schon in der Konfi-Zeit gefragt, wieso gerade wir angeblich in den richtigen Glauben hineingeboren sind und alle anderen missionieren sollen. Ich habe bei meinen Konzertreisen so viele tolle Leute kennengelernt, die nicht Christen waren. Am Ende zählt für mich nicht, ob jemand Christ, Buddhist oder Moslem ist, sondern wie er lebt und was er tut.
Gab es auch Konflikte?
Die Frömmigkeit in dieser Gemeinschaft war schon recht streng. Mit Genuss und Freude hatte man es nicht so. Das führte zu Problemen, als ich anfing, mich mit Pop-Musik zu beschäftigen. Pop bedeutet Körperlichkeit, und das galt als Teufelszeug.
Übrigens habe ich mich etwas an diese Atmosphäre erinnert gefühlt, als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal in Russland aufgetreten bin. Das war in einer deutschen evangelischen Kirche, und es wurde ganz deutlich, dass die älteren Gemeindeglieder uns und dem überwiegend jungen Publikum sehr misstrauisch gegenüberstanden. Ich denke manchmal, wir hängen da in einer Schleife fest: Die starren Formen der Frömmigkeit erlauben keinen Ausbruch, keine Lebendigkeit. Das scheint mir überall auf der Welt so zu sein.
Haben Sie eine klassische Musikausbildung?
Ich hatte klassischen Klavierunterricht. Mein Lehrer hatte mit Pop natürlich nichts am Hut. Also habe ich angefangen, nach dem Gehör Popsongs zu spielen, mit dem Kassettenrekorder auf den Knien. Im Notenlesen war ich nicht so gut; wenn ich in der Kirche den Chor begleiten sollte, habe ich mir häufig die Gitarrengriffe aufgeschrieben und nach diesen Akkorden gespielt.
Haben Sie Musik studiert?
Nein, Medizin. Musik galt in meinem Elternhaus als brotlose Kunst. Ich habe zwei Jahre lang Zivildienst in einer Krebsstation gemacht und dort viele Menschen beim Sterben begleitet. Das war eine prägende Zeit. Ich habe gesehen: Gläubige leiden und sterben manchmal genauso unruhig wie Nicht-Gläubige, Arme genauso wie Reiche. Das hat mein Verständnis von Frömmigkeit ziemlich auf den Kopf gestellt. Mit dem Medizin-Studium wollte ich wohl etwas gegen das Leiden tun. Allerdings bin ich nur bis zum Physikum gekommen; danach habe ich mich dann ganz auf das Musikmachen konzentriert.
Sie haben sich inzwischen als experimenteller Musiker mit Ihrem präparierten Klavier international einen Namen gemacht. Auch für Ihre Filmmusiken sind Sie bekannt. Würden Sie auch Kirchenmusik schreiben?
Absolut. Wenn ich Musik mit meditativen Elementen mache, entsteht schnell so ein kirchliches Gefühl bei mir, vor allem dann, wenn Chor und Orchester dabei sind. Musikalisch ist mir der Komponist Arvo Pärt, der viel Kirchenmusik geschrieben hat, sehr nah. Meine Ideen beim Komponieren haben immer mit Lebensfragen zu tun, mit Weite, Sehnsucht nach Liebe und der Achtung dem Leben gegenüber.
Darum geht es auch in dem Film „Lion“, für dessen Musik Sie jetzt gemeinsam mit Dustin O'Halloran für den Oscar nominiert wurden: Ein kleiner indischer Junge schläft allein in einem Zug ein und wacht erst wieder auf, als er tausende Kilometer von seiner Heimat entfernt ist. Als Erwachsener sucht er seine Wurzeln. Wie ist diese Musik entstanden?
Der Film war fast fertig, als wir mit der Musik begannen. Wir haben ihn laufen lassen und unsere Ideen dazu direkt gespielt. So konnten wir unseren eigenen Impulsen folgen und sehr fein abgestimmt auf das Geschehen auf der Leinwand eingehen. Eine alternative Technik wäre, die Musik als Computerdatei aufzunehmen und sie dann elektronisch zu bearbeiten und dem Film anzupassen. Das haben wir für „Lion“ aber kaum gemacht. Wir haben analog gespielt, weil wir so näher dran waren an den Emotionen.