„Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“, so hieß es bei den Erntefeierlichkeiten der DDR. Die Gegenrede zu dieser stolzen Feier menschlicher Fähigkeiten steht im Gesangbuch: „Wachstum und Gedeihen liegt in des Himmels Hand“, schrieb der Liederdichter Paul Gerhardt in seinem bekannten Erntedanklied.
Für die meisten Menschen liegt die Wahrheit wahrscheinlich irgendwo dazwischen. Wir strengen uns schon ordentlich an und tun unser Teil dazu, dass unser Einsatz zu einem Ertrag führt: zum Gehalt oder zur Rente auf dem Konto, zum Häuschen oder zur Weltreise – diese „Ernten“, so finden wir, stehen uns wirklich zu. Die haben wir uns verdient.
Trotzdem ist es wohl jedem und jeder schon passiert, dass alle Mühe umsonst war. Plötzlich kam eine Krankheit, die alle Pläne zunichtemachte, eine Firmenpleite oder eine Naturkatastrophe – und ob verdient oder nicht: Der Erfolg langer Arbeit zerrann zwischen den Fingern. Anderes wiederum gelang überraschend auch ohne unser Zutun. Wachstum und Gedeihen, so zeigt das Leben, liegt eben nicht in unserer Hand.
Wo liegt es dann? Durch die biblischen Texte und Lieder, die zum Erntedankfest gehören, zieht sich das Vertrauen: Es liegt in Gottes Hand. Was wir zum Leben brauchen, bekommen wir geschenkt – großzügig und unverdient. Und was wir auf diese Weise bekommen, sollen wir auf dieselbe Weise weitergeben.
Allerdings ist das mit dem Weitergeben so eine Sache. Sicher, am Erntedanktag ist der Altar reich geschmückt mit Spenden, die später an Seniorenheime oder Flüchtlingsunterkünfte weitergegeben werden. Diese Großzügigkeit können wir uns erlauben; sie lässt uns gut dastehen.
Aber was ist, wenn es ums Prinzip geht? Wenn – wie bei der Wiedervereinigung – plötzlich ein halbes Land von „unserer“ Wirtschaftsleistung profitieren soll? Oder wenn Tausende Flüchtlinge in unser Sozialsystem aufgenommen werden, das „wir“ doch aufgebaut haben?
Da fällt die Großzügigkeit nicht mehr so leicht. Das Gefühl, dass wir es verdient haben und die nicht, macht sich breit und findet seinen Ausdruck in Neiddebatten und Verdrängungsparolen. Waren nicht wir es, die über Jahrzehnte hinweg Stück für Stück durch unsere Anstrengung zum Reichtum Deutschlands beigetragen haben? Wieso sollen andere jetzt ernten, was sie nicht gesät haben?
Was bei dieser Sichtweise verloren geht, ist das Wissen: Auch unser Verdienst ist unverdient; auch wir leben aus Gnade. Das kann man sich im Kleinen klarmachen – das Geschenk einer langen Friedensperiode, einer stabilen Politik, einer gemäßigten Klimazone – oder auch im Großen: Diese Welt ist Gottes Schöpfung. Er hat uns Menschen geschaffen und uns überreich beschenkt, weil er es so wollte – „ohn‘ all mein Verdienst und Würdigkeit“, wie Martin Luther formulierte.
Die Konsequenz daraus: Was wir haben, dürfen wir teilen. Großzügig und ohne darauf zu achten, ob der andere es verdient. Das ist die Botschaft von Erntedank.
Artikel teilen:
Ernten, was man nicht gesät hat
Lohn der eigenen Hände Arbeit oder Gottes unverdiente Gnade? Was wir im Leben an Gutem empfangen, ist nicht unser Werk. Darum sollte das Teilen selbstverständlich sein