Mehr Popkultur wagen – so das Credo der evangelischen Citykirche Heidelberg. Am Sonntag kommen – bei strahlendem Sommerwetter – mehrere Hundert Christen zum ersten Taylor-Swift-Gottesdienst. Und sind von Musik und Gefühl überwältigt.
Durch die weltberühmte Heidelberger Altstadt pilgern Touristengruppen. Bestaunen die Heiliggeistkirche – eines der Wahrzeichen Heidelbergs. Touristen müssen jedoch heute draußen bleiben. Denn rund 900 Swifties feiern an diesem Sonntagmittag zwei Popgottesdienste mit Musik und Texten des Weltstars Taylor Swift – die natürlich nicht selbst da ist, sondern beim Start ihrer Europatournee in Paris.
“Die Heiliggeistkirche war schon immer ein Ort der Begegnung, des Austauschs. Deshalb passt der Popgottesdienst perfekt hierher. Wir geben damit den Fragen und Themen der jungen Generation Raum”, sagt der leitende Heidelberger Pfarrer Christof Ellsiepen.
Die Stimmung der beiden gut, aber nicht voll besetzten Gottesdienste tendiert dabei mehr Richtung ruhiger Andacht als zur ausgelassenen Konzertparty. Sängerin Tine Wiechmann interpretiert mit klarer Stimme mehrere Swift-Hits, live begleitet von einer Band. Vor dem Altar ein Regenbogenplakat mit der Botschaft: “Everybody is welcome!” Beim Schlusslied “Shake it off!” gehen die gläubigen Swift-Fans dann etwas mehr aus sich heraus. Inklusive frenetischem Schlussapplaus.
Citykirchenpfarrer Vincenzo Petracca zitiert Liedtexte, zeichnet Swifts Biografie nach. Jetzt wissen wir, dass Swifts Eltern eine Weihnachtsbaumplantage hatten und die junge Taylor ein Lied über die wahre Bedeutung von Weihnachten geschrieben hat.
Die Gebetsbitten für Kranke, Leidende und arme Menschen begleitet die Band instrumental. Petracca übersetzt ausgewählte Liedtexte und bezeichnet Swift als herausragende Lyrikerin, Frauenrechtlerin und politische Christin, aufgewachsen in einem katholischen Umfeld. Ihr Engagement gegen Rassismus, Frauenfeindlichkeit und für Geschlechtergerechtigkeit sei vorbildlich. “Vielleicht wird sie bei den US-Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr das Zünglein an der Waage sein.”
Das Heidelberger Publikum ist gemischt und deutlich jünger als bei normalen Gottesdiensten. “Ich freue mich, dass meine beiden Töchter spontan zugesagt haben, heute dabei zu sein”, erzählt Tiziana La Selva. “Solche Aktionen bringen junge Menschen wieder in Kontakt mit Kirche.”
Ihre Tochter Clara mag die Songs, ärgert sich aber, dass Swift ihre Popularität nicht nutze, um mehr für Umwelt- und Klimaschutz zu tun. “Mit so viel Erfolg und Geld geht Verantwortung einher. Und da finde ich es schwierig, wenn sie sich nicht engagiert und stattdessen selbst kürzeste Strecken mit dem Privatjet zurücklegt.”
Der Gottesdienst beweist, dass Swifts Musik offen für verschiedenste Interpretationen ist. Experten sehen darin gerade eine Grundbedingung für globalen Erfolg von Musik. Die ausdrucksstark gespielten Songs funktionieren auch im ehrwürdigen Raum der Heiliggeistkirche.
Pfarrer Petracca, der das Konzept der Popgottesdienste entwickelt hat, zeigt sich nach der Feier selbst emotional angefasst: “Ich habe in strahlende Gesichter geschaut, und beim Song, mit dem Taylor die Krebserkrankung ihrer Mutter aufgreift, hatten viele Tränen in den Augen.”
Auch Gottesdienstbesucherin Nadja Quast fühlt sich von der Musik im Gottesdienst getröstet. Swift sei eine starke Frau und für sie ein persönliches Vorbild. Und Sergej Koch ergänzt, in der Kirche herrsche seit Jahrhunderten Stillstand. “Sie hat längst den Kontakt zu den Menschen verloren. Und viele suchende, fragende und leidende Menschen schlicht allein gelassen.” Aber vielleicht sei der Taylor-Swift-Gottesdienst ein kleines Zeichen dafür, dass “Kirche sich doch noch auf die Welt und die Fragen der Gegenwart zubewegen kann”.