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Eine Urne neben der Nobelpreisträgerin

Im 19. Jahrhundert gab es in den christlichen Kirchen und in der Bevölkerung noch große Widerstände gegen die Feuerbestattung. 1878 wurde in Gotha das erste Krematorium Europas eingeweiht. Hier steht auch die Urne Bertha von Suttners

Wenn Pro und Contra sich kämpferisch gegenüberstehen, treibt das nicht selten auch sprachlich eigenartige Blüten: „Ich will beerdigt werden, wie ich’s gewohnt bin!“ Mit diesem Ausruf ließ sich ein Gothaer Stadtverordneter vernehmen, der sich gegen den Bau eines Krematoriums wandte.

Nur das Krematorium in Chicago ist älter

Wir schreiben das Jahr 1878 und die Gegner der Feuerbestattung mussten ihre erste Niederlage hinnehmen. Dem liberalen Chef des Hauses Sachsen-Coburg und Gotha sei Dank. „Unser Herzog Ernst war sehr aufgeschlossen“, erklärt Ronald Häring, der Geschäftsführer des Bestattungsinstituts Gotha GmbH, der Betreiberin des Krematoriums. „Er hatte ein offenes Ohr für die Ziele des Feuerbestattungsvereins.“ Kein Wunder, schließlich sammelte der 1874 gegründete und schnell wachsende Verein auch das Geld für den Bau des Krematoriums, des ersten in Europa. Nur in Chicago soll sich ein älteres befunden haben.  
„Seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts gewann die Idee der Feuerbestattung immer mehr an Zustimmung“, blickt Häring zurück. Die Bevölkerung der Städte wuchs und damit auch die Zahl der Toten. Prominente Unterstützung bekam die Bewegung durch Jakob Ludwig Grimm,  der Vorlesungen über die Leichenverbrennung hielt, und den Arzt Rudolf Virchow, der Feuer als das am besten geeignete Desinfektionsmittel bezeichnete.
„Der Markt war da, wie man heute sagen würde“, formuliert der Geschäftsführer. Das Edikt von Paderborn, in dem Karl der Große im Jahr 785 die Verbrennung untersagt hatte, geriet ins Wanken. Die katholische Kirche erlaubte jedoch erst 1963 diese Art der Bestattung, während die evangelische die Einäscherung bereits in den 1920er Jahren akzeptiert hatte. „Die Kommunen entdeckten die Feuerbestattung als eine neue Einnahmequelle“, meint Ronald Häring, allerdings zunächst nur sehr zögerlich.
Auch Bertha von Suttner, die österreichische Schriftstellerin, Pazifistin und Trägerin des Friedensnobelpreises, den sie 1905 als erste Frau erhielt, unterstützte die Feuerbestattung. 1907, sieben Jahre vor ihrem Tod, hatte sie im Testament festgelegt, dass ihr Leichnam nach Gotha zur Feuerbestattung überführt werde und die Urne dort zu verbleiben habe. „Das löste einen regelrechten Boom aus, denn viele österreichische Offiziere ließen sich daraufhin hier einäschern“, bemerkt der Gothaer Bestattungsexperte.
Bevor das Krematorium aber gebaut werden konnte, musste nicht nur der engagierte Feuerbestattungsverein das nötige Geld zusammenbringen und der Stadtrat zustimmen. Auch nicht unerhebliche technische Hürden galt es zu meistern. Eine Verbrennung im offenen Feuer sollte es aus Pietätsgründen nicht geben. Auch sollte der Vorgang schnell beendet und sicher sein, die Verbrennung vollständig und für die Nachbarschaft ohne Belästigungen durchgeführt werden. Diese Richtlinien waren auf einem internationalen Feuerbestattungskongress 1876 festgelegt worden.
Nachdem sich ein Ofen, den die Firma Friedrich Siemens aus Dresden 1867 auf der Weltausstellung in Paris präsentiert hatte, zur Leichenverbrennung eignete, nahmen die Dinge auf dem Hauptfriedhof der thüringischen Residenzstadt ihren Lauf. Der Entwurf von Stadtbaurat Julius Bertuch konnte realisiert werden. Der 50 Meter lange, neoklassizistische Gebäudekomplex mit seiner Säulenhalle, die von zwei tempel­ähnlichen Bauten eingefasst wird, steht heute unter Denkmalschutz. Mit seinen architektonischen Details erinnert der Bau daran, dass Leichenverbrennungen in der Antike keine Ausnahme waren. 1892 musste bereits eine Rotunde mit glasüberdachtem Innenhof zur Aufnahme der vielen Urnen angebaut werden.

Ein Jahr nach dem Tod eingeäschert

„Am 10. Dezember 1878 konnte die erste Einäscherung stattfinden – und zwar von einem bereits Beerdigten“, erzählt Ronald Häring. Dieser einmalige Vorgang geht auf die Tatsache zurück, dass der Gothaer Feuerbestattungsfreund Carl-Heinrich Stier bereits 1877 gestorben war. Für diesen Fall hatte er jedoch testamentarisch vorgesorgt und verfügt, dass er nur provisorisch beerdigt werden dürfe. Folglich musste der Ingenieur, der die Errichtung des Krematoriums entscheidend vorangetrieben hatte, zunächst in einen Metallsarg sozusagen unterirdisch geparkt werden.
Auch wenn die Zustimmung zur Feuerbestattung in der Bevölkerung stetig wuchs, so blieben die Kirchen doch noch lange bei ihrem Widerstand. Diese Haltung wirkte sich auf die Behörden und ihre eher restriktiven Entscheidungen aus. Erst 13 Jahre nach dem Gothaer Krematorium eröffnete in Heidelberg die zweite Anlage. Ende des 19. Jahrhunderts wurden noch rund 20 Prozent aller Einäscherungen im Deutschen Reich im kleinen Gotha vorgenommen. Aktuell gibt es 134 Krematorien in Deutschland – „Tendenz steigend“, weiß Ronald Häring. Der Ausgangspunkt für diese Entwicklung lag im Gothaer Krematorium.