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„Ein Krieg gegen die Menschlichkeit“

Russlands evangelischer Erzbischof Dietrich Brauer musste fliehen – weil er gegen den Krieg predigte

Dietrich Brauer, der Erzbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, ist vor wenigen Tagen mit seiner Familie nach Deutschland geflohen. Er hat sich der Weisung des Moskauer Präsidialamtes widersetzt, nicht gegen den Krieg zu predigen. Im Interview mit Magdalena Smetana spricht er über den Krieg in der Ukraine und die Situation und Rolle der Kirchen in dieser Situation.

Als wir kurz nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs miteinander per Zoom gesprochen haben, sagten Sie: „Jetzt ist die Grenze überschritten, jetzt kann ich nicht mehr schweigen.“ Was genau war der Moment, der Sie zum Umdenken brachte?
Dietrich Brauer: Am 24. Februar um 6 Uhr bin ich in einer neuen Welt aufgewacht. Zwei Tage vorher wären wir noch bereit gewesen, Gespräche zu führen und uns anzupassen oder uns neu zu orientieren. Aber an diesem Morgen habe ich gespürt: Das geht nicht mehr. Ich hoffte, dass es ein Fake ist. Aber dann nahm ich mit den Kollegen in der Ukraine und Geschwistern in den Partnerkirchen Kontakt auf und es war klar: Jetzt gibt es kein „Aber“ mehr.

Welches „Aber“ meinen Sie?
Unsere Kirche hat immer wieder nach Lösungen gesucht. Ich in meiner Position habe versucht, Brücken zu bauen, zu vermitteln und Verständnis für beide Seiten aufzubringen. Ich war vorsichtig, auch als die Krim Russland angeschlossen wurde und gegenüber den Geschehnissen in Donbass. Auch da haben wir auf Dialog gesetzt und gemeinsam überlegt, wie wir die Gemeinden unterstützen können.

Jetzt war aber die Grenze erreicht.
Ja, es kam noch schlimmer. Das ist unvorstellbar. Wir durften nicht vom Krieg sprechen, nicht für den Frieden beten und keinen Kontakt zu unseren ukrainischen Geschwistern aufnehmen.

Sie haben am Sonntag nach dem Ausbruch des Krieges im Gottesdienst klare Worte gefunden. Wie waren die Reaktionen?
Ich habe befürchtet, Menschen würden es entweder nicht glauben oder kleinreden oder die Schuld bei beiden Parteien suchen. Aber ich war positiv überrascht, wie gut die Predigt ankam. Ich war nicht politisch, aber ich war klar. Ich sprach vom Krieg und vom Gefühl der Ohnmacht, das viele gespürt, aber keine Worte dafür hatten. Es ist wie ein enger Raum, aus dem kein Entkommen ist. Viele weinten, sprachen über ihre Ängste und es war viel Dankbarkeit da.

Wie ging es weiter?
Es gab eine klare Forderung des Präsidialamtes an alle religiösen Leader, sich zu äußern und den Krieg zu unterstützen. Die meisten haben es getan. Der katholische Kollege beruft sich auf den Vatikan und schweigt. Der jüdische Oberrabbiner, der auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hat, fand kluge Worte. Er rief alle dazu auf, sich für den Frieden einzusetzen. Dem hätten wir uns anschließen können. Ich wollte eine gemeinsame Erklärung mit allen Religionsgemeinschaften verfassen, aber dem haben sich die anderen nicht angeschlossen. Gemeinsam hätten wir etwas bewegen können.

Sie wurden 2015 als Mitglied in den „Rat für die Zusammenarbeit mit religiösen Vereinigungen“ beim Präsidenten der Russischen Föderation berufen.
Dort sind alle traditionellen Religionsgemeinschaften vertreten. Unsere lutherische Kirche war lange Jahre nicht vertreten, weil es bisher nur deutsche Bischöfe gegeben hat. Diese wurden in den Rat nicht berufen. Deshalb war es ein Fortschritt. Wir konnten unsere Anliegen vorbringen, uns vernetzen und auch Brücken bauen. Für mich war es auch die Möglichkeit, direkt mit den Verantwortlichen zu kommunizieren.

Sie haben damals gesagt, es sei ein positives Zeichen und eine gesellschaftliche Anerkennung einer kleinen Minderheitskirche. Aus heutiger Sicht: Wie ernst waren die Schritte der orthodoxen Mehrheitskirche und des Staates auf die lutherische Kirche zu?
Das werden wir wohl erst im Rückblick beurteilen können. Staatlicherseits sind in dem Rat keine Theologen. Dennoch hofften wir auf Annäherung. Ich bin auf die Menschen zugegangen, habe Kontakte geknüpft, Projekte durchgeführt. Wir konnten zum Beispiel im Jahr 2020 eine Kopie der Stalingrad-Madonna von Berlin nach Moskau überführen, wo sie jetzt in der Peter-und-Paul-Kathedrale ihren festen Ort hat. Das haben wir diesen Kontakten zu verdanken.

Auch die Moskauer Kathedrale konnte nach drei Anläufen in den Besitz der Kirche rückübertragen werden. Welche Hoffnungen haben Sie selbst mit diesem Schritt verbunden?
Das ist auch so ein Beispiel. Wir hatten nur ein Nutzungsrecht, obwohl die Kirche eigentlich in unserem Besitz war. Der Staat war der Inhaber. Wir waren verschiedensten Schikanen ausgesetzt und es drohte jederzeit Vertragsabbruch. Es war eine totale Abhängigkeit. Ich nahm das Reformationsjubiläum als Anlass, um diesen Prozess zu beschleunigen. Dafür waren die Kontakte wichtig. Und es hat die Verantwortlichen beeindruckt, dass der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tatsächlich teilgenommen hat. Beim Festakt sprach er darüber, dass diese Kathedrale ein Begegnungsort für alle Konfessionen werden kann.

In der westlichen Presse lesen wir über die Stellungnahme des Patriarchen Kyrill I. zum Krieg. Gibt es noch Möglichkeiten, Einfluss auf ihn auszuüben?
Das ist schwer zu sagen. Wir hörten seitens der Kirche seit Jahren ein Narrativ über Christenverfolgung und Völkermord in der Ukraine. Deshalb ist sein Handeln eine logische Konsequenz. Auch die Predigten, die wir hören, sind konsequent. Aber viele Menschen haben von ihm etwas erwartet.

Wie sehen Sie im Moment die Rolle der Orthodoxen Kirche im Allgemeinen? Besteht die Möglichkeit, dass sich ein Protest von unten aufbaut?
Manche Bischöfe äußern sich, aber viele Priester und Gläubige haben Angst. Dazu kommt noch die innere Zerrissenheit. Russen und Ukrainer, verschiedene Konfessionen haben friedlich miteinander gelebt. Aber jetzt? Wenn sie die Toten sehen und Panzer. Was sollen sie denken?

Sie sind Bischof der ELKER und Erzbischof der ELKR und tragen Verantwortung für 170 Kirchengemeinden und 50 Pfarrerinnen und Pfarrer und viele Gemeindeglieder. Wie geht es ihnen?
In jeder Kirche der Union der Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Russland, der Ukraine, Kasachstan und Zentralasien haben wir jeweils einen Bischof, der zuständig ist. Aber wir leben in einer engen Kirchengemeinschaft, sind vertraglich verbunden. Schwer zu sagen, wie viele Menschen überhaupt bleiben. Die Kirche ist in Gefahr. Unsere Geschichte ist leidvoll – früher waren wir als Deutsche stigmatisiert, selbst ich, obwohl ich schon in der dritten Generation unter Repressalien lebe und nur den russischen Pass besitze. Wir haben immer gehofft, dass diese Zeit nicht mehr wiederkommt. Jetzt müssen wir wieder von vorne anfangen.

Kann es gelingen, dass die Kirche über die Grenze hinweg zur Versöhnung beitragen kann?
Ich hoffe es sehr. Die Situation ist anders als 2014. Jetzt gibt es einen größeren Zusammenhalt, die Menschen sagen, es darf uns kein Hass beherrschen. Jetzt ist Zeit zum Handeln und zum Helfen und nicht die Zeit zum Anschuldigen. Dafür bin ich dankbar.

Was können wir als Kirche, als GAW, als Christinnen und Christen im Ausland für die Glaubensgeschwister in Russland tun?
Eine gute Frage. Ich habe keine Antwort. Ich versuche, verschiedene Szenarien zu überlegen. Sollte es noch schlimmer kommen, sollte ein größerer Krieg ausbrechen, müssen wir versuchen, Menschen zu evakuieren. Andere Möglichkeit ist, dass alles noch länger dauert, und das bedeutet, wir können keine Pläne machen. Mit meinen Konsistorien besprechen wir gerade, wie es weitergeht, wie das Leben vor Ort aufrechterhalten werden kann. Wie es aber in zwei Monaten aussehen wird, kann niemand sagen. Meine Hoffnung ist, dass sich die Situation entschärft. Auch das wäre möglich.

Was sind Ihre langfristigen Pläne? Können Sie nach Russland zurückkehren?
Im Moment nicht. Leider gibt es zurzeit mehr Fragen als Antworten. Ich distanziere mich klar und öffentlich von diesem Krieg, der nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine ist, sondern auch ein Krieg gegen die Menschlichkeit. Er wird definitiv nicht in unserem Namen geführt.

Was trägt Sie in dieser Zeit, was gibt Ihnen Kraft?
Meine Familie, Freundinnen und Freunde und unsere Partner hier vor Ort. Aber auch die Menschen in Russland, die mutig weitermachen. Eine große Quelle sind die Herrnhuter Losungen, die ich täglich lese. Ich staune, wie das Wort Gottes in der aktuellen Situation zu uns spricht. Das bewegt mich sehr.

Dieses Interview wurde zuerst auf www.elk-wue.de veröffentlicht.