Was ist aus Ihrer Sicht besonders gut gelungen beim Zusammenwachsen zu einer Nordkirche?
Gerhard Ulrich: Zunächst mal finde ich die Art und Weise beispielhaft, in der wir aufeinander zugegangen und nun miteinander unterwegs sind: geschwisterlich, mit Achtung und Wertschätzung füreinander. Denn jede der drei Kirchen aus Ost und West, die zusammenkamen und nun zusammenwachsen, war Teil des durch die Zeit wandernden Gottesvolkes. Dieses Miteinander ist längst lebendige Praxis – bei Tagungen der Landessynode und anderer Gremien, aber auch, wenn wir gemeinsam feiern, zum Beispiel bei den gemeinsamen Chorfesten “Dreiklang” in Greifswald und Lübeck: Wunderbar, die Vielfalt, die wir dabei erleben konnten!
In unserem gemeinsamen Weg sehe ich aber auch ein wichtiges Zeichen in unsere Gesellschaft hinein: Angesichts von Klagen über fehlenden Zusammenhalt, die Verabsolutierung jeweils eigener Interessen halte ich die Nordkirche für ein zukunftsweisendes Projekt zur Stärkung des Miteinanders in unserem Land.
Kirsten Fehrs: Die Nordkirche vereint in sich sehr unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen. Eine Kirchengemeinde in Nordfriesland funktioniert einfach anders als in Hamburg-Blankenese oder in Neubrandenburg. Oder nehmen Sie den Religionsunterricht oder die Diakonie: Mehr Vielfalt als in der Nordkirche geht nicht. Mich beeindruckt, dass trotz dieser enormen Unterschiede eine gute Gesprächskultur gewachsen ist. Ich erlebe ein aufmerksames Zuhören und Nachfragen, zum Beispiel in der Landessynode, aber auch in anderen Gremien. Viele Kirchengesetze wurden neu geschaffen und teilweise angeglichen. Das geht nicht ohne Diskussionen. Aber viele Menschen sind bereit, sich und ihre jeweiligen Sichtweisen infragestellen zu lassen. Das geht viel besser, als ich gedacht hätte. Und die Diskussionslinien verlaufen längst nicht nur zwischen Ost und West, sondern zum Beispiel auch zwischen Stadt und Land. Nordkirche bedeutet auch: Viel Herumkommen und sehr viel kennenlernen. Das gilt nicht nur jetzt für die Nordkirchenschiffstour und nicht nur für Kirchenleitende, sondern wie unsere Strandkörbe auf der Reformationsausstellung in Wittenberg zeigen: auch für Kirche und Tourismus. Gelungen ist, dass wir Prävention von sexualisierter Gewalt überall in der Nordkirche zum Thema gemacht haben. Da müssen wir klar Kante zeigen. Das kann so eine große Kirche auch gut gemeinsam. Beispielsweise auch beim Thema Rechtsextremismus. Denn gerade bei unangenehmen Themen ist es wichtig, dass wir hinsehen, nicht wegsehen. Und uns positionieren.
Andreas von Maltzahn: Mit der Gründung der Nordkirche wollten wir die unterschiedlichen Prägungen der drei Vorgängerkirchen füreinander fruchtbar machen und die Kräfte für eine Kommunikation des Evangeliums bündeln, die nah bei den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Hamburg ist. Wir sind ein gutes Stück auf diesem Weg vorangekommen. Doch nach wie vor sind Begegnungen wichtig, dass wir einander kennen und besser verstehen lernen. Was mich freut: Es gibt gegenseitige Inspirationen, und wir arbeiten intensiv dafür, auch gut mit Menschen im Dialog und in Beziehung zu sein, die nicht einer Kirche angehören. Nach meinem Eindruck hat sich im Zuge der Fusion auch das Verhältnis zwischen Pommern und Mecklenburg erfreulich entwickelt: In verschiedensten Arbeitszusammenhängen nehmen wir wahr, wie viel uns verbindet und was wir voneinander lernen können.
Hans-Jürgen Abromeit: Die Fusion ist in den Köpfen und Herzen angekommen. Es ist schön, zu einer größeren Gemeinschaft dazu zu gehören. Das erfahren auch alle, die in Sachen Nordkirche unterwegs sind – auf Landessynoden, in gemeinsamen Gremiensitzungen, im geistlichen Zentrum Ratzeburg mit seinen diversen Einrichtungen wie dem Pastoralkolleg Ratzeburg und nicht zuletzt auch in der Kirchenleitung. Die Stimmung ist gut. Zudem ist es uns im Fusionsprozess gelungen, eine wirklich gute Kirchenverfassung zu beschließen. Sie lässt vor Ort oder im Kirchenkreis das entscheiden, was dort besser überblickt werden kann, weil man da näher dran ist. Selbst der Pfarrstellenplan wird in den Kirchenkreisen festgelegt. Diese Mitverantwortung ist ein Ausfluss aus dem reformatorischen Konzept des Priestertums aller Glaubenden. Außerdem ist das geistliche Amt bei uns in gut lutherischer Tradition zwar als Gegenüber der Gemeinde konzipiert, gleichzeitig aber eng mit der Gemeinde verbunden. Die Nordkirchenverfassung stärkt die geistlichen Anteile im pastoralen, im pröpstlichen und im bischöflichen Amt, also auf allen Ebenen. Dazu gehört auch eine Betonung der Kollegialität – von den Pastoren bis zu den Bischöfen. Damit sind wir meines Erachtens Vorreiter einer zeitgenössischen Ausprägung des Amtes und Vertreter einer konsequenten Gemeindekirche.
Gothart Magaard: Die Nordkirche ist für mich ein sehr gutes Beispiel für eine Kirche, in der sich Glaubens- und Lebenserfahrungen aus West und Ost gegenseitig bereichern. Das ist spürbar in vielen Arbeitsfeldern, aber besonders in den kirchlichen Gremien.
Der Bogen, der sich schlagen lässt von dem Gründungsfest der Nordkirche zu Pfingsten 2012 in Ratzeburg bis hin zum Höhepunkt des ökumenischen Reformationsgedenkens am Pfingstmontag im Dom und auf dem Marktplatz von in Schwerin in diesem Jahr zeigt, wie wichtig es ist, zusammen zu kommen und miteinander zu feiern. Die Ausstellung „Luthers Norden“, die anlässlich des Reformationsjubiläums derzeit in Greifswald und ab Oktober auf Schloss Gottorf in Schleswig gezeigt wird, unterstreicht unsere gemeinsame Geschichte, ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie wir in der Gegenwart gemeinsam unseren Glauben bezeugen können.
Was sind aus Ihrer Sicht die derzeit wichtigsten Baustellen im Zusammenwachsen?
Gerhard Ulrich: Wir wachsen zusammen mit unseren gemeinsamen Aufgaben, bei der gemeinsamen Suche nach Antworten auf die Fragen, die uns gestellt sind: Was ist unser Auftrag als Gemeinde Jesu Christi in dieser Zeit und Welt? Was brauchen Menschen von uns – in der Nähe und in der Ferne? Wo und wie haben wir uns in gesellschaftliche Entwicklungen und Debatten einzubringen?
Schon jetzt gibt es dafür zahlreiche Beispiele: So werden wir weiterhin das Gespräch mit Menschen, die eine säkulare Lebenshaltung haben, suchen und fördern. Dabei fließen auch die in fünf Jahren gesammelten Erfahrungen einer gemeinsamen Arbeitsstelle in das landeskirchliche Werk ‚Kirche im Dialog‘ ein, das wir gerade errichten. Trotz des demographischen Wandels wollen wir auch künftig als Kirche für Menschen vor Ort präsent sein – sowohl in der Metropole als auch im ländlichen Raum. Gemeinden und diakonische Einrichtungen vernetzen sich mit zivilgesellschaftlichen Kräften und Kommunen im Einsatz für Geflüchtete – und stärken das friedliche und respektvolle Zusammenleben. Gemeinsam nehmen wir Verantwortung in der Welt für ein Leben aller Menschen in Würde wahr. Ein ökumenisches Bündnis kirchlicher Gruppen begleitet den G20-Gipfel Anfang Juli mit Gottesdienst, Gebeten und inhaltlichen Angeboten.
Kirsten Fehrs: Ich würde es anders beschreiben: Unsere Hauptbaustelle ist nicht das Zusammenwachsen der Nordkirche. Es gibt sehr große Herausforderungen, denen sich alle stellen müssen, von Helgoland bis Heringsdorf: Wie bleiben wir bei abnehmender Mitgliederzahl und demografischem Wandel eine Kirche mit Ausstrahlung? Was machen wir mit unserem großen Gebäudebestand? Wie gehen wir damit um, dass wir künftig weniger Pastorinnen und Pastoren haben werden? Sicherlich wird jeder Kirchenkreis da seine eigenen Schwerpunkte setzen, aber letztlich müssen wir auch das große Ganze im Auge behalten. Darin liegt die eigentliche Herausforderung. Ich glaube außerdem, dass wir nicht nur Strukturen neu bedenken müssen, sondern dabei auch unser geistliches Profil schärfen müssen: Was heißt es eigentlich, Christ zu sein in einer Zeit, in der Religion einerseits politisch aufgeladen wird und andererseits vielen gleichgültig geworden ist? Und was bedeutet es, evangelisch zu sein – auch nach dem Reformationsjubiläum? Eine ganz große Baustelle ist auch, wie wir Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gemeinden integrieren. An der gemeinsamen Bewältigung dieser Aufgaben wird die Nordkirche wachsen und zusammenwachsen.
Andreas v. Maltzhan: Kirche ist nicht Selbstzweck – darum ist das Entscheidende, dass wir uns nach besten Kräften bemühen, Schönheit und Lebenskraft des christlichen Glaubens für möglichst viele Menschen erfahrbar werden zu lassen. Dieser Aufgabe hat alles andere zu dienen – zum Beispiel die weitere Neusetzung des kirchlichen Rechtes. Das kostet zwar viel Mühe, bedeutet jedoch für uns, dass wir nicht einfach das Recht einer Kirche übernehmen, sondern uns um die beste Lösung auf der Grundlage unserer Verfassung bemühen.
Im Blick auf die Arbeit vor Ort wünsche ich mir, dass wir Pastorinnen und Pastoren stärker von Verwaltungsaufgaben entlasten, damit sie freier sind, Menschen in den Veränderungsprozessen unserer Zeit gut begleiten und stärken zu können.
Hans-Jürgen Abromeit: Wir haben gerade die Kirchengemeinderäte neu gewählt, in der nächsten Zeit stehen Neuwahlen an in den Kirchenkreissynoden, der Landessynode, der Kirchenleitung und bei den Bischöfen. Im Übergang zu dieser nächsten Generation von Verantwortungsträgern werden wir darauf achten müssen, dass die gemeinsamen und tragenden Ideen des Anfangs, die zu so viel Gemeinsamkeit geführt haben, uns weiterhin verankern und beflügeln. Es besteht immer die Gefahr, nur das direkte Umfeld und die eigenen Probleme zu sehen. Wir brauchen einen weiten Blick und Menschen, denen das Ganze wichtig ist.
Gothart Magaard: Drei ehemals selbständige Landeskirchen bringen ihre jeweils eigenen Traditionen und gewachsenen Kirchenverständnisse mit. In der Nordkirche gibt es rechtlich noch so manches, was an Gesetzen und Verordnungen angeglichen werden muss. Das ist wichtig und zugleich auch anstrengend, denn hinter diesen scheinbar nüchternen Verordnungen und Gesetzen verbergen sich vielfältige zum Teil grundsätzliche, zum Teil auch praktische Fragestellungen, auf die in unserer Nordkirche gemeinsame Antworten gefragt sind. Dies wird zum Beispiel auch das kirchliche Handeln bei Kasualien betreffen, also die Frage, wie wir Menschen in den unterschiedlichen Lebenssituationen gut begleiten können. Und für mich gehört auch dazu, zugleich klar im Bekenntnis zu sein und uns die geistige und geistliche Weite zu erhalten.
Was läuft aus Ihrer Sicht noch nicht so gut? Warum? Und was muss sich ändern, damit sich das ändert?
Gerhard Ulrich: Ein solches Projekt, wie wir es uns vorgenommen haben, kann nicht auf Knopfdruck reibungslos funktionieren, das war von Anfang an klar. Mir ist deshalb eines besonders wichtig: Die Kraft und die Geduld, mit Widersprüchen, Konflikten und Krisen konstruktiv umzugehen, wachsen daraus, dass wir nicht für uns selbst unterwegs sind. Sondern im Namen dessen, der uns in diese Welt aussendet, als Gemeinschaft der Getauften, als Teil der Familie Gottes. Unterschiedliche geistliche und theologische Traditionen kommen in unserer neuen Kirche zusammen, entfalten sich in ihrer Vielfalt und schließen einander nicht aus, sondern bereichern uns alle. Und manchmal brauchen wir Geduld miteinander und den Mut, Eingefahrenes zu verlassen und neue Modelle des Miteinanders auszuprobieren. Gemäß unserer Verfassung achten wir dabei natürlich darauf, dass die unterschiedlichen Kulturen nicht verschwinden. Wir wollen die Stärken des jeweils anderen für das Leben der Kirche nutzen.
Kirsten Fehrs: Unser innerkirchlicher Föderalismus ist einerseits ein Segen, weil er viele Entscheidungen an der Basis belässt. Andererseits besteht hier auch immer die Gefahr des berühmten Kirchturmdenkens: Meine Gemeinde, mein Kirchenkreis, mein Sprengel ist mir am nächsten. Der Austausch muss hier noch sehr viel stärker werden und die Bereitschaft, von anderen zu lernen. Manche Kirchenkreise sind sehr gut aufgestellt in puncto Gebäudemanagement, andere haben große Kompetenzen bei der Mitgliederkommunikation. Wieder andere gehen neue Wege bei der Regionalisierung. Ich bin sehr für diese Vielfalt und kann sie mir sogar noch größer vorstellen, etwa indem Erprobungsräume ermöglicht werden, um neue Formen der Gemeindearbeit auszuprobieren. Das bedeutet aber auch zugleich: Es braucht eine Stärkung zentraler Strukturen, um den Austausch und die Kommunikation zu verbessern. Wir in der Nordkirche“ – diesen Satz höre ich noch zu selten.
Andreas v. Maltzahn: Unsere junge Kirche ist auf Beteiligung möglichst vieler Menschen angelegt – auch in Entscheidungsprozessen. So wertvoll der Beteiligungsgedanke ist – wenn eine zu treffende Entscheidung erst durch etliche Gremien muss, bindet das nicht nur Ressourcen, sondern lässt uns manchmal auch nicht schnell genug auf Herausforderungen reagieren. Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir hier beweglicher werden. Andererseits – ist die Entscheidung erst einmal gefallen – haben wir z. B. in der Arbeit mit Geflüchteten erlebt, welche Kraft unsere Kirche entfalten kann, wenn sie ihre Ressourcen entschlossen einsetzt.
Hans-Jürgen Abromeit: Wir stehen manchmal in der Gefahr, das wirklich Wichtige aus den Augen zu verlieren – bei all den vielen und wichtigen Dingen, die organisiert werden wollen und Aufmerksamkeit erheischen. Es beunruhigt mich zutiefst, dass wir als Kirche sehr aktiv sind, dennoch so viele Menschen den Glauben an Jesus Christus und die Kirche als für sie nicht relevant erleben. Ich fürchte, wir setzen manche Prioritäten falsch. Wir verzetteln uns. Das Wichtigste ist, dass das Evangelium von Jesus Christus verkündigt wird “an alles Volk” (Barmer Theologische Erklärung, These 6). Das müssen wir uns jeden Tag aufs Neue bewusst machen.
Gothart Magaard: Als besondere Herausforderung erlebe ich die Spannung zwischen der Fläche unserer Kirche und der Relevanz zentraler Orte. Unser kirchliches Leben spielt sich eben nicht nur in Schwerin, Hamburg oder Kiel ab. Die großen Entfernungen, die daher im Alltag zu überwinden sind, fordern uns daher alle, aber in besonderer Weise die Ehrenamtlichen, die sich überregional engagieren. Hier müssen wir weiterhin nach Wegen suchen, eine Balance zwischen der wichtigen persönlichen Begegnung und den technischen Möglichkeiten zu finden, um gut in Kontakt miteinander und arbeitsfähig zugleich zu sein.
Die Fragen stellte Tilman Baier.