Fußball ist doch nur ein Spiel – die schönste Nebensache der Welt. So sagt man leicht daher. Doch wo Menschen beim Fußball ihre Aggressionen abladen, kann die Begeisterung im Stadion in Tod und Trauer umschlagen.
Rückschau ist die Perspektive für Besserwisser, klar. Aber aus der Rückschau war es eine Katastrophe mit Ansage. Aus der Rückschau hat gar nichts gepasst: das Stadion komplett marode, das Sicherheitskonzept seinen Namen nicht wert; zu wenig Personal, zudem schlecht verteilt; die Blockverteilung durch Pfusch unterminiert; viele Fans hochgradig aggressiv und gewaltbereit.
Am Ende stehen: 39 Tote, mehr als 450 Verletzte, große Trauer und ein riesiger Image-Schaden für den Fußball, der über Jahre anhielt. Vier Jahrzehnte ist die Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion vom 29. Mai 1985 her. Fans fluchen heute über vermeintlich übertriebene Sicherheitsmaßnahmen; aber: Was in Heysel geschah, darf sich nicht wiederholen in Ländern, in denen mit Fußball Millionen und Milliarden umgesetzt werden.
Der Brüsseler Stadtteil Laeken hat viel zu bieten: den königlichen Park mit dem Schloss, mit den prächtig-monumentalen Gewächshäusern und einem der schönsten Friedhöfe der Region; das Expo-Gelände von 1958 mit dem Atomium – und nebenan das König-Baudouin-Stadion, das größte Fußball- und Leichtathletikstadion Belgiens. Hier sollte vor 40 Jahren – damals hieß es noch Heysel-Stadion – ein weiteres Volksfest stattfinden: das Fußball-Landesmeister-Finale (heute: Champions League) zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin. Doch es kam ganz anders.
Die Kurzfassung: Schon mittags hatten sich Liverpool-Fans in der kneipenreichen Stadt die Kante gegeben und randaliert. Im Stadion selbst eröffneten dann Juve-Anhänger mit Steinwürfen und Leuchtraketen. Auch Liverpooler griffen zu losen Steinen aus dem Gemäuer, zündeten Bengalos. Die Aggressionen hatten eine Vorgeschichte: Im Vorjahresfinale hatte Liverpool den AS Rom im Elfmeterschießen geschlagen – im römischen Olympiastadion! Römische Fans rasteten aus und attackierten englische Zuschauer, sogar Familien. “Das war das Vorspiel für Heysel”, sagt Buchautor Paul McCallam.
In Heysel geschah dann, was niemals hätte passieren dürfen. Juve-Anhänger provozierten aus dem Nachbarblock der Liverpooler – obwohl der Block eigentlich für neutrale Fans reserviert war. Doch ein italienisches Reisebüro hatte einen UEFA-Funktionär bestochen und die Tickets an Juve-Fans verkauft. Englische Hooligans jedenfalls stürmten nun, einer kleinen Handvoll Polizisten zum Trotz, über einen dünnen Maschendrahtzaun hinweg in den ungesicherten Nachbarblock.
Die Menge floh in Panik und brachte eine marode Mauer zum Einstürzen. 39 Menschen wurden erdrückt, zertrampelt oder erstickten: 32 Italiener, 4 Belgier, 2 Franzosen und 1 Nordire. Zusätzliche Sicherheitskräfte konnten lange nicht angefordert werden; die Funkgeräte waren entweder leer oder nicht untereinander kompatibel.
Dutzende Tote, Hunderte Verletzte; Krankenwagen im Minutentakt. Doch die Verantwortlichen entschieden, das Spiel mit 90 Minuten Verspätung trotzdem anzupfeifen – um die Gemüter nicht noch weiter zu erhitzen. Das ZDF brach die Übertragung aus Brüssel aber ab, ebenso wie viele andere Sender. Juves 1:0-Sieg per Elfmeter war Makulatur.
Längere Haftstrafen für 14 Hooligans, 1,25 Millionen Euro Entschädigung und eine fünfjährige Sperre für alle englischen Fußballklubs in europäischen Wettbewerben; Strafen auch für Juve und den belgischen Fußballverband: Das waren die Konsequenzen.
Doch entscheidende Fragen blieben im Raum stehen: Das Heysel-Stadion genügte schon auf dem Papier den Anforderungen des europäischen Fußballverbandes UEFA nicht. Der FC Liverpool hatte im Vorfeld Protest gegen den Austragungsort eingelegt. Und auch bei der Abschlussprüfung der UEFA am Tag vor der Partie fiel die Arena eigentlich durch. Warum fand das Spiel dennoch hier statt?