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Die vermeintlich feministische Variante von Frankenstein

Seine bisherigen Filme waren alle nicht ohne Humor, aber so richtig etwas zu lachen gab es weder in „Dogtooth“ noch in „The Killing of a Sacred Deer“ oder „The Favourite“. Mit „Poor Things“ kommt Yorgos Lanthimos dem Genre Komödie nun näher als je zuvor. Wo es die anderen Filme noch ganz darauf abgesehen hatten, dem Zuschauer zwiespältige, durchaus auch unwohle Gefühle zu bereiten, lädt „Poor Things“ direkt zum Amüsement ein.

Das ist das Geheimnis dieser Adaption einer Parodie auf die viktorianische „Gothic Novel“ vom schottischen Autor Alasdair Gray, geschrieben 1992. Sie macht so viel Spaß, obwohl sie von wirklich grausamen Dingen handelt. Eine davon ist die Genese der Hauptfigur Bella Baxter (Emma Stone), deren pietätlose Details erst nach und nach enthüllt werden. Bis dahin überwiegt bereits die Komplizenschaft, die man mit der sympathisch als temperamentvolles Kleinkind auftretenden Frau eingeht.

Bella scheint die liebevoll behandelte Tochter im Haushalt von Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) zu sein, dem am Vorbild von Mary Shelleys „Frankenstein“ angelegten „Doktor“ mit Neigung zur experimentellen Chirurgie. Sie ist aber nur eines seiner vielen „Monster“. Hunde mit Schwanenhälsen, Ziegen mit Entenschnäbeln und Hühner mit Mopsgesicht bevölkern das Anwesen und zeugen vom operativen Geschick des Mediziners, der sich von Bella „God“ nennen lässt.

Was sonst den Anklang von Missbrauch in sich tragen würde, ist hier nur ein Running Gag. Denn „God“ gebärdet sich als ausgesprochen sanfter und rücksichtsvoller „Mad Scientist“. Die eigene Opfer-Erfahrung ist ihm im wahrsten Sinn des Wortes ins Gesicht geschrieben, das mit Wülsten und Operationsnarben dem eines klassischen Frankenstein-Monsters gleicht.

Während er mit Assistent Max (Ramy Youssef) pedantisch Bellas Entwicklung misst, beobachtet und registriert, erzählt er immer wieder von den grauslichen Experimenten, die sein eigener Vater an ihm verübt hat. Alles für den wissenschaftlichen Fortschritt, weshalb er auch noch die sadistischste Folter ungerührt als neutrales Stillen von Wissensdurst schildert. Einzig die melancholische Grundstimmung, die Willem Dafoe seinem Godwin Baxter verleiht, zeugt vom Trauma solcher Kindheitserfahrungen.

„Poor Things“ wurde bei der Premiere in Venedig als Emanzipationsdrama gepriesen, mit Emma Stones Bella im Zentrum, die in einer viktorianisch inspirierten Fantasy-Landschaft aufwächst und über das Sammeln von sexuellen Erfahrungen zu einem befreiten Selbst findet. Der springende Punkt dabei ist, dass ihr „Aufwachsen“ ein rein geistiges ist, denn in Wahrheit verfolgen Godwin und Max und mit ihnen die Zuschauer das Erwachsenwerden eines kindlichen Gemüts in einem immer schon erwachsenen Frauenkörper.

Man kann sein Vergnügen haben an Stones clownesken Bemühungen, mit dem Körper einer 34-Jährigen den staksenden Gang einer Zweijährigen nachzuahmen oder mit der Zerstörungslust eines Kleinkinds auf Leichenteile einzuhacken. Bald entdeckt sie dank eines Apfels die eigene Orgasmusfähigkeit, und kurz darauf wird mit dem von Mark Ruffalo gespielten Lebemann Duncan Wedderburn ein Verführer vorstellig, der Bella auf eine Reise quer durch Europa mitnimmt. Dort erforscht sie ihre Sexualität weiter, zum Missvergnügen ihres bald völlig in sie verschossenen Begleiters.

Im Kern wird „Poor Things“ hier zur Parodie auf den erotischen Roman à la „Fanny Hill“, in dem die männliche Fantasie der naiven, deshalb sexuell befreit auftretenden Kindfrau als emanzipatorisch ausgegeben wird. In dieser Tradition macht sich Bella selbstständig, indem sie in einem Pariser Bordell jobben geht. So bleibt die Perspektive des Films auf den weiblichen Körper und Sex eine stark männlich bestimmte. Nur dass die männlichen Helden, allen voran Ruffalos sensationell empfindsames Porträt eines Hallodris, schlecht wegkommen. Es sei denn, sie machen sich zum Verbündeten der Heldin.