„Ich war in der Schule immer zu langsam beim Lesen“, erinnert sich Reiner Delgado. „Ich konnte nur einen Buchstaben nach dem anderen erkennen und habe für eine Buchseite eine Viertelstunde gebraucht.“ Eine Augenkrankheit ließ sein Sehvermögen immer stärker schwinden. Als er zwölf Jahre alt war, veränderte sich seine Welt – dank einer Erfindung, die im Jahr 2025 200 Jahre alt wird: Innerhalb eines Jahres lernte Delgado die Brailleschrift für Blinde, ein Alphabet nach einem tastbaren Punktesystem – und gleich noch die Braille-Kurzschrift dazu, eine Art Stenografie für Blinde.
Mit 13 Jahren stieg der heutige Sozialreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (DBSV) in der Schule auf die neue Schrift um. „Endlich konnte ich Texte richtig lesen“, berichtet er. Delgado machte das Abitur auf der Carl-Strehl-Schule in Marburg, dem einzigen speziellen Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte in Deutschland. Das Werkzeug für die Bildung verdanken Blinde und Sehbehinderte einem genialen Kopf, Louis Braille (1809-1852). Er erfand als Teenager die tastbare Blindenschrift, die heute seinen Namen trägt.
Weltblindenunion erinnert mit dem „Welt-Braille-Tag“ an Louis Braille
Am 4. Januar, dem Geburtstag von Louis Braille, erinnert die Weltblindenunion seit 2001 jedes Jahr mit dem „Welt-Braille-Tag“ an den Erfinder der Schrift, die Blinden das Tor zur Welt aufgestoßen hat. Sie besteht aus sechs Punkten, die in zwei senkrechten Reihen zu je drei Punkten nebeneinander angeordnet sind, wie ein Eierkarton mit sechs Eiern. Die Buchstaben werden aus einer Kombination dieser Punkte gebildet, 63 Kombinationen sind möglich.
Fast jede geschriebene Sprache der Welt kann man nach Angaben des DBSV in Brailleschrift schreiben, etwa auch Russisch, Arabisch oder phonetische Systeme ostasiatischer Schriftzeichen. Die Genialität besteht zum einen in der Vielseitigkeit – sie kann für alle Alphabete, für Zahlen, mathematische und chemische Formeln, Musiknoten, das Schachspiel und Strickmuster verwendet werden. Zum anderen kann die Schrift leicht ertastet und damit flüssig gelesen werden.
Der Erfindung der Blindeschrift geht eine Katastrophe voraus
Der Erfindung geht eine Katastrophe voraus: Der in dem Dorf Coupvray östlich von Paris geborene Louis Braille verliert infolge eines Unfalls im Alter von drei Jahren das Augenlicht. Auf der königlichen Blindenschule in Paris lernen die Schüler mit aufgeklebten Buchstaben aus Holz, ein dünnes Schulbuch besteht aus mehreren dicken, schweren Bänden. Da stellt der Offizier Charles Barbier (1767-1841) in der Schule seine Idee einer Nachtschrift vor, die Soldaten im Dunkeln lesen sollen: Silben werden durch eine Kombination von bis zu zwölf Punkten und Linien zum Ertasten in einen Karton gestanzt. Der junge Louis fängt Feuer.
Er entwickelt eine auf sechs Punkte reduzierte tastbare Schrift und denkt sich die Darstellung aller Buchstaben, Zahlen, Satz- und mathematischen Zeichen sowie Musiknoten aus. Im Jahr 1825 hat er die Schrift fertiggestellt. Die ersten Bücher werden in Brailleschrift hergestellt, aber die staatliche Anerkennung bleibt ihr versagt. Leiter von Blindenschulen lehnen sie ab. Zeitlebens kämpft Braille für die Anerkennung. Kurz nach seinem 43. Geburtstag stirbt er. 26 Jahre später, 1878, wird die Brailleschrift auf einem internationalen Kongress zur Schrift für den Unterricht an Blindenschulen erklärt. Heute ist sie die weltweit anerkannte Blindenschrift.
Computertexte in Brailleschrift lesen
Die in Deutschland in dem Verband „medibus“ zusammengeschlossenen Büchereien für Blinde und Sehbehinderte bieten nach Angaben des Deutschen Zentrums für barrierefreies Lesen in Leipzig rund 20.000 Titel in Brailleschrift an, dazu mehr als 7.000 Stücke Notenliteratur. Bücher in Brailleschrift sind umfangreich, wie die Bibliothekarin Ellen Taubner von der Emil-Krückmann-Bücherei in Marburg erklärt: Eine „Schwarzschriftseite“ entspreche drei Seiten in Braille-Kurzschrift oder fünf Seiten in Brailleschrift. Die Lutherbibel in Brailleschrift sei ein Werk von 37 Bänden in Atlantengröße.
Auch im digitalen Zeitalter gewährt die Brailleschrift Blinden und Sehbehinderten Teilhabe: Mit einer unterhalb der PC-Tastatur angebrachten und per Bluetooth verbundenen Leiste, der „Braillezeile“, können sie Computertexte in Brailleschrift lesen. Die Leiste enthält eine regelmäßige Anordnung von Löchern, aus denen kleine Stifte herausstoßen und den Fingerspitzen somit die Buchstaben oder Zahlen angeben. Für die Eingabe an Smartphones wurde die Braille-Bildschirmeingabe entwickelt: Die Software aktiviert sechs berührungssensitive Felder auf dem Display entsprechend der sechs Punkte der Brailleschrift.
„Der Mangel an lesbarer Schrift macht die Brailleschrift für mich zu etwas besonders Wertvollem und Persönlichem“, bekennt Reiner Delgado. „Wie viele andere Blinde sage ich: meine geliebte Brailleschrift!“ Der DBSV möchte das Erlernen für alle erleichtern: Seit Oktober bietet er dazu Fernkurse an.