In Deutschland gilt eigentlich die Pflicht zur Krankenversicherung. Dennoch sind Praxen immer stärker nachgefragt, die Menschen ohne Krankenversicherung behandeln. Das hat unterschiedliche Gründe. Ein Besuch in Berlin.
Jelena hat Kopfschmerzen, schon seit Monaten. Schüchtern sitzt sie vor dem Schreibtisch von Ärztin Anne-Christine Potocka und berichtet von ihren Beschwerden. Ihre kleine Tochter läuft durch das Behandlungszimmer und schaut sich auf Mamas Handy ein Video an. Eine Freundin ist mitgekommen, um zu übersetzen: Denn Jelena, die eigentlich anders heißt, kommt aus Serbien und spricht kein Deutsch.
Die Patientin ist Anfang 20 und sehr dünn. Das Blutdruckmessgerät schlabbert fast um ihren Arm, so dass die Ärztin zwischenzeitlich überlegt, ein Kindermessgerät zu holen.
Wer die junge Frau ist und wie ihre Lebensverhältnisse sind, ob sie einen Partner hat, ob sie arbeitet, ob sie dauerhaft in Deutschland lebt, ist nicht bekannt. “Danach fragen wir nicht”, sagt Claudia Reuter, Verwaltungsleiterin der Malteser-Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung in Berlin-Wilmersdorf. “Die Menschen hier dürfen selbst entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben wollen. Für uns ist das Wichtigste, dass wir ihnen helfen können.”
Obwohl hierzulande eine Pflicht zur Krankenversicherung herrscht, zeigen Zahlen in ganz Deutschland: Immer mehr Menschen suchen Praxen auf, in denen sie sich ohne Krankenversicherung behandeln lassen können. Das belegen Statistiken von verschiedenen Einrichtungen.
In Berlin betreiben die Malteser die größte Praxis dieser Art, die sich zur Hälfte aus Spenden finanziert. Allein in diesem Jahr hat das Team dort bis Ende September 1.618 Patientinnen und Patienten medizinisch versorgt; im gesamten Jahr 2024 waren es 1.962 – eine Steigerung im Vergleich zum Vorjahr also. Ähnliches meldet die Organisation Ärzte der Welt. Sie geht in ihren Einrichtungen sogar von einer bundesweiten Steigerung von 16,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr aus.
“Ob das daran liegt, dass immer mehr Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung haben oder ob das Angebot einfach immer bekannter wird, ist nicht ganz klar”, sagt Sophie Pauligk, Vorständin beim “Bundesverband Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung”. Entwicklungen wie der angespannte Wohnungsmarkt und die steigende Zahl von Räumungsklagen sprächen eher für einen zunehmenden Bedarf.
Das Statistische Bundesamt zählte im Jahr 2019 rund 61.000 Menschen, die in Deutschland ohne Krankenversicherung leben. Laut Fachleuten und Hilfsorganisationen ist die Zahl weitaus größer: Demnach ist ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland nicht krankenversichert – das wären mehr als 800.000 Menschen.
“Man geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus”, sagt Pauligk. Viele Menschen tauchten in offiziellen Statistiken nicht auf. Dazu zählen etwa Menschen, die nicht in Deutschland gemeldet sind, Wohnungslose ohne Postadresse oder auch Personen aus dem EU-Ausland, die hierzulande keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen.
Klar sei: “Der allergrößte Teil der Menschen ist in existenzieller Not. Sie würden nicht kommen, wenn sie eine andere Möglichkeit sähen.” Viele seien überfordert mit ihrer Situation und hätten keine Ressourcen.
Rückenschmerzen, Erkältungen, Impfungen, Schwangerenvorsorge: Das Wartezimmer der Malteser-Praxis in Berlin-Wilmersdorf ist an diesem Oktobermorgen voll. “Meistens stehen die Menschen vor der Öffnung um 9 Uhr schon Schlange vor der Einrichtung”, sagt Praxismanagerin Reuter. Es sind Patienten jeden Alters, Männer wie Frauen, Kinder, alte Menschen, und sie kommen aus verschiedenen Ländern. 30 Ärztinnen und Ärzte und zahlreiche Pflegekräfte oder medizinische Assistenten arbeiten hier ehrenamtlich. Neben der allgemeinmedizinischen gibt es auch eine gynäkologische Sprechstunde, Kinder- und Zahnärzte sowie Orthopäden und Dermatologen.
Der Bedarf sei da: “Berlin ist voll davon. Ich sehe diese Menschen überall in der Stadt”, sagt Allgemeinmedizinerin Potocka, die gerne hier hilft. Sie sagt aber auch: “Ich könnte es nicht jeden Tag machen. Dann hätte ich das Gefühl, es ist ein bodenloses Fass. Die Not ist endlos.” Die 66-jährige Deutsch-Französin ist pensioniert und arbeitet hier einmal pro Woche.
“Es ist für mich ein Stück Detektivarbeit, herauszufinden, was die Menschen haben”, sagt sie. Nicht nur, weil viele kein Deutsch können – dabei helfen zum Beispiel ihre eigenen Sprachkenntnisse oder Übersetzerinnen.
Je nach Kulturkreis hätten die Menschen “einfach ein anderes Verständnis vom Körper und seinen Organen”, berichtet Potocka. Auch Geister oder Glaube an Schamanen spielten mitunter eine Rolle. “Da ist es manchmal schwierig, herauszufinden, was eigentlich das Problem ist. Nicht alle können ihre Beschwerden strukturiert beschreiben.” Die Ärztin freut es deshalb besonders, wenn sie den Ursachen für Beschwerden auf die Schliche kommt – und helfen kann. “Es ist sehr befriedigend eine Lösung zu finden und Besserung zu sehen.” Jelena hat sie etwa die Adresse eines Augenarztes gegeben, der sie ohne Versicherung behandelt: Die junge Frau benötigt eine Brille; eine Sehschwäche ist vermutlich der Grund für ihre Kopfschmerzen.
Die Patienten und Patientinnen, die sich hier melden, kommen aus 104 Ländern, die meisten aus Vietnam und Serbien, aber auch aus Kamerun, der Ukraine und Syrien. Doch nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund suchen die Praxis auf – ebenso sind Deutsche darunter. Laut Statistik machen sie bundesweit ein Drittel der Patienten aus.
“Das sind zum Beispiel Selbstständige, die in die Insolvenz rutschen und sich dann so durchwursteln. Ihnen versuche ich dann klar zu machen, dass mit zunehmendem Alter das Risiko zu erkranken steigt”, sagt Medizinerin Potocka. Mitunter kämen Menschen, die noch nie in ihrem Leben beim Arzt gewesen sind. “Wir sind hier vielleicht auch netter und nehmen uns mehr Zeit als in anderen Praxen. Aber die Menschen dürfen sich auch nicht zu wohl fühlen. Manche richten sich zu sehr in der Situation ein.” Grundsätzlich sei der beste Weg, krankenversichert zu sein.
Dafür ist dann Sozialarbeiterin Rebecca Bowers zuständig, die ein Zimmer weiter sitzt. Sie versucht, herauszufinden, ob nicht eine Chance besteht, wieder Mitglied einer Krankenversicherung zu werden. “Ich kann mir die Zeit nehmen, die die Ärzte nicht haben, und eine Vertrauensbasis herstellen”, sagt die 27-jährige Britin. Und sie hat Erfolgserlebnisse: “Ich bin jetzt seit zwei Monaten hier und habe drei Menschen geholfen, zurück in eine Krankenversicherung zu kommen.” Sie sieht aber auch viele, die “keine Bleibeperspektive haben – und trotzdem bleiben. Sie haben ein Problem.” Denn auch diese Menschen werden manchmal krank.
Macht man sich nicht so seine Gedanken über die Menschen, die man behandelt und berät, und von denen man so wenig weiß? – “Doch, natürlich”, sagt Potocka. Manchmal kämen zum Beispiel Frauen, bei denen ihr schnell klar sei, dass es sich um Prostituierte handele.
Das Problem der Ausbeutung kennt auch Expertin Pauligk, die die Sächsische Clearingstelle für Menschen ohne Krankenversicherung leitet. “Gerade bei Kindern und Frauen ist die Situation manchmal dramatisch. Sie können kein Deutsch und haben nur über ihren Vater oder Mann einen Aufenthaltstitel und darüber einen Sozialversicherungsanspruch.” Damit seien sie in totaler Abhängigkeit.