Jelena hat Kopfschmerzen, schon seit Monaten. Schüchtern sitzt sie vor dem Schreibtisch von Ärztin Anne-Christine Potocka. Ihre kleine Tochter läuft durch das Behandlungszimmer und schaut sich auf Mamas Handy ein Video an. Eine Freundin ist mitgekommen, um zu übersetzen: Denn Jelena, die eigentlich anders heißt, kommt aus Serbien und spricht kein Deutsch. Sie ist Anfang 20 und sehr dünn. Das Blutdruckmessgerät schlabbert fast um ihren Arm, so dass die Ärztin zwischenzeitlich überlegt, ein Kindermessgerät zu holen.
Wer die junge Frau ist und wie ihre Lebensverhältnisse sind, ob sie einen Partner hat, ob sie arbeitet, ob sie dauerhaft in Deutschland lebt, ist nicht bekannt. “Danach fragen wir nicht”, sagt Claudia Reuter, Verwaltungsleiterin der Malteser-Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung in Berlin-Wilmersdorf. “Die Menschen hier dürfen selbst entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben wollen. Für uns ist das Wichtigste, dass wir ihnen helfen können.”
Praxen versorgen wachsende Zahl Unversicherter
Obwohl hierzulande eine Pflicht zur Krankenversicherung herrscht, zeigen Zahlen in ganz Deutschland: Immer mehr Menschen suchen Praxen auf, in denen sie sich ohne Krankenversicherung behandeln lassen können. Das belegen Statistiken von verschiedenen Einrichtungen – nicht nur der Malteser, die in Berlin die größte Praxis dieser Art betreiben, die sich zur Hälfte aus Spenden finanziert.
Die Organisation Ärzte der Welt hat laut Bericht im vergangenen Jahr 2.254 Patientinnen und Patienten versorgt – allein in Berlin, Hamburg und München. Menschen jeden Alters, Geschlechts und soziokulturellen Hintergrundes nähmen entsprechende Angebote in Anspruch.
“Ob das daran liegt, dass immer mehr Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung haben oder ob das Angebot einfach immer bekannter wird, ist nicht ganz klar”, sagt Sophie Pauligk, Vorständin beim “Bundesverband Anonymer Behandlungsschein und Clearingstellen für Menschen ohne Krankenversicherung”. Entwicklungen wie der angespannte Wohnungsmarkt und die steigende Zahl von Räumungsklagen sprächen eher für einen zunehmenden Bedarf.
Existenzielle Not ohne Krankenversicherung bleibt oft unsichtbar
Das Statistische Bundesamt zählte im Jahr 2019 rund 61.000 Menschen, die in Deutschland ohne Krankenversicherung leben. Laut Fachleuten und Hilfsorganisationen ist die Zahl weitaus größer: Demnach ist ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland nicht krankenversichert – das wären mehr als 800.000 Menschen.

“Man geht von einer sehr hohen Dunkelziffer aus”, sagt Pauligk. Viele Menschen tauchten in offiziellen Statistiken nicht auf. Dazu zählen etwa Menschen, die nicht in Deutschland gemeldet sind, Wohnungslose ohne Postadresse oder auch Personen aus dem EU-Ausland, die hierzulande keiner sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Klar sei: “Der allergrößte Teil der Menschen ist in existenzieller Not. Sie würden nicht kommen, wenn sie eine andere Möglichkeit sähen.”
Rückenschmerzen, Impfungen, Schwangerenvorsorge: Das Wartezimmer der Malteser-Praxis ist an diesem Morgen voll. “Meistens stehen die Menschen vor der Öffnung um 9 Uhr schon Schlange vor der Einrichtung”, sagt Praxismanagerin Reuter. Es sind Männer wie Frauen, Kinder und alte Menschen, und sie kommen aus verschiedenen Ländern. 30 Ärztinnen und Ärzte und zahlreiche Pflegekräfte oder medizinische Assistenten arbeiten hier ehrenamtlich. Neben der allgemeinmedizinischen gibt es auch eine gynäkologische Sprechstunde, Kinder- und Zahnärzte sowie Orthopäden und Dermatologen.
Herausforderungen bei der Versorgung ohne Krankenversicherung
Der Bedarf sei da: “Berlin ist voll davon. Ich sehe diese Menschen überall in der Stadt”, sagt Allgemeinmedizinerin Potocka, die gerne hier hilft. Sie sagt aber auch: “Ich könnte es nicht jeden Tag machen. Dann hätte ich das Gefühl, es ist ein bodenloses Fass. Die Not ist endlos.” Die 66-jährige Deutsch-Französin ist pensioniert und arbeitet hier einmal pro Woche. “Es ist für mich ein Stück Detektivarbeit, herauszufinden, was die Menschen haben”, sagt sie. Nicht nur, weil viele kein Deutsch können – dabei helfen zum Beispiel ihre eigenen Sprachkenntnisse oder Übersetzerinnen.
Je nach Kulturkreis hätten die Menschen “einfach ein anderes Verständnis vom Körper und seinen Organen”, berichtet Potocka. Auch Geister oder Glaube an Schamanen spielten mitunter eine Rolle. “Da ist es manchmal schwierig, herauszufinden, was eigentlich das Problem ist. Nicht alle können ihre Beschwerden strukturiert beschreiben.” Die Ärztin freut es deshalb besonders, wenn sie den Ursachen für Beschwerden auf die Schliche kommt – und helfen kann. “Es ist sehr befriedigend eine Lösung zu finden und Besserung zu sehen.” Jelena hat sie etwa die Adresse eines Augenarztes gegeben, der sie ohne Versicherung behandelt: Die junge Frau benötigt eine Brille; eine Sehschwäche ist vermutlich der Grund für ihre Kopfschmerzen.
Fehlende Krankenversicherung betrifft Menschen aus über 100 Ländern
Die Patienten und Patientinnen, die sich hier melden, kommen aus 104 Ländern, die meisten aus Vietnam und Serbien, aber auch aus Kamerun, der Ukraine und Syrien. Die Ärzte der Welt geben 96 Staatsangehörigkeiten an; auch Personen mit Schulden bei der Krankenversicherung seien betroffen. Acht Prozent haben in den Praxen und Behandlungsbussen von Ärzte der Welt demnach einen deutschen Pass, neun Prozent leben von einer regulären Arbeit, Rente oder Pension.

Betroffen seien zum Beispiel Selbstständige, die in die Insolvenz rutschen: “Ihnen versuche ich dann klar zu machen, dass mit zunehmendem Alter das Risiko zu erkranken steigt”, sagt Medizinerin Potocka. Mitunter kämen Menschen, die noch nie beim Arzt gewesen sind. “Wir sind hier vielleicht auch netter und nehmen uns mehr Zeit als in anderen Praxen. Aber die Menschen dürfen sich auch nicht zu wohl fühlen. Manche richten sich zu sehr in der Situation ein.” Grundsätzlich sei der beste Weg, krankenversichert zu sein.
Dafür ist dann Sozialarbeiterin Rebecca Bowers zuständig, die ein Zimmer weiter sitzt. Sie versucht, herauszufinden, ob nicht eine Chance besteht, wieder Mitglied einer Krankenversicherung zu werden. “Ich kann mir die Zeit nehmen, die die Ärzte nicht haben, und eine Vertrauensbasis herstellen”, sagt die 27-jährige Britin. Und sie hat Erfolgserlebnisse: “Ich bin jetzt seit zwei Monaten hier und habe drei Menschen geholfen, zurück in eine Krankenversicherung zu kommen.” Sie sieht aber auch viele, die “keine Bleibeperspektive haben – und trotzdem bleiben. Sie haben ein Problem.” Denn auch diese Menschen werden manchmal krank.
Experten warnen vor Folgen fehlender Krankenversicherung
Macht man sich nicht so seine Gedanken über die Menschen, die man behandelt und berät, und von denen man so wenig weiß? – “Doch, natürlich”, sagt Potocka. Manchmal kämen zum Beispiel Frauen, bei denen ihr schnell klar sei, dass es sich um Prostituierte handele.
Das Problem der Ausbeutung kennt auch Expertin Pauligk, die die Sächsische Clearingstelle für Menschen ohne Krankenversicherung leitet. “Gerade bei Kindern und Frauen ist die Situation manchmal dramatisch. Sie können kein Deutsch und haben nur über ihren Vater oder Mann einen Aufenthaltstitel und darüber einen Sozialversicherungsanspruch.” Damit seien sie in totaler Abhängigkeit.
