Man sieht sie beim Arzt, im Krankenhaus, in Fußgängerzonen: Frauen und Männer, meist selbst schon mit grauen Haaren, die noch ältere, fast greise Menschen beim Gehen stützen oder im Rollstuhl schieben. „Mid-Ager“, Menschen zwischen 40 und 60 Jahren, deren Eltern gebrechlich werden, Hilfe zu Hause oder im Alltag brauchen. „Die Tochter oder der Sohn im mittleren Alter sehen sich plötzlich in der Pflicht, ihre Eltern zu unterstützen“, sagt die Familientherapeutin Birgit Lambers aus Heiligenhaus bei Düsseldorf. Sie spricht von der „Kümmer-Generation“.
Die Lebenserwartung ist stark gestiegen
An sich ist es nichts Neues, dass sich Kinder um ihre Eltern im Alter kümmern. Aber Ausmaß und Umfang der Herausforderung sind heute weit größer als in vergangenen Jahren. Die Lebenserwartung ist stark gestiegen: 1960 lag sie bei Männern noch bei rund 67, bei Frauen bei 72 Jahren. Heute beträgt sie im Schnitt 79 Jahre (Männer) und 83 Jahre (Frauen).
„Unsere Eltern sind in der heutigen Zeit durchschnittlich nicht mehr 30, sondern 50 Jahre mit uns gemeinsam auf der Welt – bis wir selbst alt werden“, schreibt die Berliner Neuropsychologin Katja Werheid in ihrem Buch „Nicht mehr wie immer“. Damit ist auch die Zeit, in der die Eltern Unterstützung brauchen, meist länger als früher. Die „Kinder“ sind dann nicht mehr die Jüngsten und haben manchmal selbst bereits mit ersten Alterserscheinungen zu kämpfen. Vielfach sind sie im Beruf stark eingespannt, wohnen weit entfernt und haben noch eigene Kinder in der Pubertät.
„Es ist zuerst oft ein kleiner Schock, wenn die Menschen im mittleren Lebensalter plötzlich feststellen, dass ihre Eltern gebrechlich werden und selber Hilfe brauchen. Schließlich waren Mutter und Vater in der Kindheit selbst die ‚Beschützer‘“, sagt Familientherapeutin Birgit Lambers. Mit ihrem Buch „Wenn die Eltern plötzlich alt werden“ hat sie einen Ratgeber für „erwachsene Kinder“ vorgelegt.
Die Hilfsbedürftigkeit kann sich mit Kleinigkeiten ankündigen: Die Wohnung ist nicht mehr so sauber wie früher, die Hose des Vaters hat ständig Flecken, die EC-Karte geht immer häufiger verloren. Oder mit einem großen Knall: Vater oder Mutter erleiden einen Schlaganfall oder stürzen und brechen sich den Oberschenkelhals. Dann drehen sich die Rollen scheinbar um. Lambers warnt allerdings davor, Vater oder Mutter auf einmal zu bevormunden. „Solange die Eltern geistig gesund sind, muss es eine Begegnung auf Augenhöhe bleiben.“
Das fällt nicht immer leicht, wenn die Senioren Risiken eingehen und sich oder andere gefährden. Die Klassiker: Der Vater will trotz Medikamenteneinnahme das Auto nicht stehen lassen, die gehbehinderte Mutter klettert beim Fensterputzen auf eine schmale Leiter. Solche vermeintliche Uneinsichtigkeit, umgangssprachlich Altersstarrsinn genannt, sorgt in vielen Familien für Frust und Streit.
Katja Werheid rät dazu, ruhig zu bleiben und für ein Gespräch mit den Eltern den richtigen Zeitpunkt zu suchen – zum Beispiel bei einem gemeinsamen Spaziergang oder beim Abtrocknen mit der Mutter. Wenn das nichts helfe, sollten „erwachsene Kinder“ zwar auf ihre Sorgen hinweisen, aber die Ablehnung erst mal akzeptieren. Vielleicht folge ja später eine Einsicht.
Noch schwieriger wird es, wenn die Eltern zum Pflegefall werden. Dann muss die Frage beantwortet werden, wer sich dauerhaft um sie kümmert. Jeder müsse für sich selber entscheiden, wie viel er für seine Eltern tun könne und wolle, meint Lambers. „Die durchschnittliche Pflegezeit liegt heute bei 8,2 Jahren“, erläutert die Therapeutin. Solange könnten nur wenige ihr Leben auf Eis legen.
Viele versuchen es zumindest: Rund 75 Prozent der fast drei Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden zu Hause versorgt, auch vom Partner oder der Partnerin. Eine Aufgabe, die gesundheitliche Risiken birgt. Nach Schätzungen von Krankenkassen leiden in Deutschland rund 20 Prozent der pflegenden Angehörigen an Depressionen. „Letztlich geht es darum, sich zu kümmern, ohne sich selber zu überfordern“, sagt Lambers. Fremde Hilfe durch Verwandte, vielleicht Nachbarn oder Pflegedienste sollte in Anspruch genommen werden. Manchmal, wenn es nicht anders gehe, müsse auch mit den Eltern über den Umzug in ein Seniorenheim gesprochen werden.
Wenn die Eltern gestorben sind, sind die „Mid-Ager“ die neue alte Generation. Da bleibt die spannende Frage, wie sie sich in der Situation verhalten werden. „Unsere eigenen Kinder, Neffen und Nichten werden unsere jetzige Rolle einnehmen“, schreibt Katja Werheid, „und die Spielregeln werden andere sein – weil jede Generation ihre eigenen neu erfinden muss.“