Es waren nicht nur die größten Demonstrationen der vergangenen Jahre, sondern auch die „schnellsten“: Nur 45 Tage nach Amtsantritt von Präsident Javier Milei in Argentinien schlossen sich im ganzen Land Hunderttausende Menschen dem zwölfstündigen Generalstreik an. Die Zentralgewerkschaft CGT sprach gar von 1,5 Millionen streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern landesweit, etwa ein Zehntel der offiziell Erwerbstätigen. Auch im Parlament wächst der Widerstand gegen die radikalen Kürzungs- und Privatisierungspläne.
„Die Heimat verkauft man nicht“ – das war in der Hauptstadt Buenos Aires das Motto des Tages. 130.000 Menschen waren dort laut Polizeiangaben auf der Straße. Die Veranstalter sprachen von 600.000 Demonstrierenden. Zur Abschlusskundgebung am frühen Nachmittag war der weitläufige Platz vor dem Parlament überfüllt, Zehntausende kamen gar nicht so weit und feierten friedlich auf den Zugangsstraßen. In Hunderten weiteren Städten Argentiniens wurde ebenfalls demonstriert.
„Das ist meine erste Demo seit 1983, als wir die Rückkehr der Demokratie gefeiert haben“, sagt Adrián Mastropierro, der seinen Zeitungskiosk um ein Uhr zugemacht hat. „Ich bekomme es täglich mit, wie die Armut zunimmt, wie Menschen die Müllcontainer durchwühlen, von denen ich das nie erwartet hätte.“ Schon jetzt leben 45 Prozent der Argentinier in Armut, und die ersten Maßnahmen der neuen Regierung haben die Inflation auf monatlich 25,5 Prozent hochschnellen lassen.
Unter gleißender Mittagssonne drängen sich bullige Gewerkschafter, Mitglieder linker Parteien, Feministinnen, Rentner, Künstler oder Umweltaktivisten auf dem Kongressplatz. Blau-weiße und rote Fahnen, riesige Transparente, selbst gebastelte Schilder, Milei-Puppen aus Pappmaché und unzählige Trommelgruppen prägen das Bild. Politischer Protest ist in Argentinien fast immer auch eine vergnügliche Angelegenheit.
Das Parlament wird von Hunderten Polizisten abgeriegelt, zu Ausschreitungen kommt es nicht. Vor den Abschlussreden wird die Nationalhymne geschmettert. „Wir werden so lange kämpfen, bis das Notstandsdekret und das Omnibus-Gesetz fallen“, ruft Gewerkschaftschef Héctor Daer und appelliert an die Abgeordneten, die über Hunderte geplante Gesetzesänderungen entscheiden müssen: „Handelt nicht versteckt im Dunkeln, schaut dem Volk ins Gesicht!“
Die Schocktherapie, mit der Javier Milei das Land im Dezember überraschte, ist ins Stocken geraten. Das ultraliberale Lager hat keine eigene parlamentarische Mehrheit, die Regierung verhandelt mit Dutzenden rechtsliberalen Abgeordneten über ein Kompromisspaket. Alle sind für Staatsabbau und Privatisierungen, doch über Tempo, Umfang und Stil wird heftig gestritten – Milei will umfassende Vollmachten, wenn auch jetzt nur noch für ein Jahr statt für zwei.
Am kommenden Dienstag gehen die Debatten im Parlament weiter. Zudem haben diverse Gerichte die Art und Weise, wie die Arbeitsrechte ausgehöhlt werden sollten, für verfassungswidrig erklärt.
„Es geht gegen die Arbeiter, die Rentner, die nationale Souveränität“, ruft Pablo Moyano, der Vorsitzende der mächtigen Lastwagenfahrer-Gewerkschaft. „Warum besteuern sie nicht die großen Vermögen, die Bergbaukonzerne?“ Sein Kollege Rafael Freire, der aus Brasilien angereist ist, macht dem Publikum Mut: „Wir haben die extreme Rechte mit Bolsonaro besiegt, und hier klappt das ganz sicher auch.“ Schließlich stimmt Taty Alemeida, die 93-jährige Mitbegründerin der Menschenrechtsgruppe „Mütter der Plaza de Mayo“, den alten Schlachtruf der Linken an: „Das einige Volk wird nie besiegt.“
Einig sind die Argentinierinnen und Argentinier aber überhaupt nicht. Im November gewann Javier Milei die Stichwahl mit deutlichen 56 Prozent – vor allem eine Abrechnung mit den zuvor regierenden, ebenfalls zerstrittenen Mitte-Links-Peronisten. Die Popularität des exzentrischen Präsidenten sinkt zwar, aber viele hoffen immer noch, dass der radikale Liberalisierungskurs, den er mit schwingender Kettensäge versprochen hatte, zumindest mittelfristig ihre Lage verbessert.
Unwahrscheinlich sei das, sagt der linkskatholische Sozialaktivist Juan Grabois. „Bald reicht bei vielen das Geld nicht mehr bis zum Monatsende, weil die Preise für das Essen, den Strom, das Gas oder die Bustickets explodieren.“ Schon im März könne es zu noch viel breiteren, anhaltenden Protesten kommen.