Von Alexander Brüggemann
Der Posten ist nicht irgendeiner. Der Bischof von London ist nicht nur die Nummer drei der Kirchenhierarchie der anglikanischen „Church of England“ nach den Erzbischöfen von Canterbury und York. Als einer von 26 „Geistlichen Lords“ ist er geborenes Mitglied des Oberhauses. Zudem ist der Bischof von London auch Dekan der rechtlich eigenständigen königlichen Kapellen – was ihm einen privilegierten Zugang zur Royal Family gibt. Wegen dieser Nähe wird er auch als „the King's bishop“ bezeichnet – in Zukunft also als die Bischöfin von Königin Elizabeth II., die ihrerseits das formale Oberhaupt der Kirche von England ist.
Ziemlich genau ein Vierteljahrhundert seit der Zulassung von Frauen zum Priesteramt dauerte es, bis eine Frau jetzt die dritthöchste Stufe der Karriereleiter in der Kirche von England erklimmen konnte. Im November 1992, vor 25 Jahren, beschloss die Generalsynode die Frauenordination – mit einer hauchdünnen Mehrheit. Die Freigabe des Frauenpriestertums führte die Kirche an den Rand der Spaltung; der Beschluss löste eine regelrechte Abwanderungswelle zum Katholizismus aus. Auch einer von Mullallys Amtsvorgängern in London, Bischof Graham Leonard (1921-2010), ließ sich zum katholischen Priester weihen – allerdings erst im Ruhestand.
Der Beschluss ist heute längst unumkehrbar. Inzwischen ist bereits jeder dritte anglikanische Geistliche in England weiblich. 2014 wurden Frauen auch zum Bischofsamt zugelassen. Nach der Ernennung zweier Weihbischöfinnen wurde Mullally im Juli 2015 in Exeter die erste Diözesanbischöfin der englischen Kirchengeschichte.
Erzbischof John Sentamu von York hatte im Januar 2015 bei der Bischofsweihe der ersten Weihbi-schöfin Libby Lane gesagt, es sei „höchste Zeit für Frauen im Bischofsamt“. Schon seit dem frühen Christentum seien Frauen „das Rückgrat der Kirche“, „unentdeckt, unbesungen und unschätzbar“. Bereits in wenigen Jahren werde man sich fragen, wie man je ohne Bischöfinnen habe auskommen können.
Die neue Hauptstadtbischöfin hat gleich genügend Baustellen. Und es entbehrt nicht einer gewissen Symbolik, dass Mullally über 35 Jahre als Krankenpflegerin im britischen Gesundheitssystem NHS gearbeitet hat, zuletzt bis 2004 als Leiterin Pflege im Gesundheitsministerium. Da ist zunächst natürlich der „Brexit“, der London in den kommenden Jahren noch viel Kopfschmerzen bereiten wird. In der königlischen Familie, der „Royal Family“, stehen Veränderungen an: eine Hochzeit am 19. Mai auf jeden Fall, Taufen womöglich.
Auf ihre beiden Karrieren angesprochen, sagte Mullally, sie habe immer eine Berufung gespürt: Jesus Christus nachzufolgen, ihn bekannt zu machen und anderen Menschen zu dienen, sei es als Krankenschwester, Pfarrerin oder Bischöfin.
Beobachter bezeichnen die anglikanische Kirche als innerlich zerstritten über Fragen der Kirchendisziplin, nicht zuletzt die Frauenfrage, aber auch den pastoralen Umgang mit Homosexuellen.
2020 steht wieder die Lambeth-Konferenz an, die Vollversammlung aller Bischöfe der anglikanischen Weltgemeinschaft. Dabei fliegen traditionell die Fetzen zwischen Liberalen und Konservativen. Hier könnte eine hochrangige Bischöfin aus der Mutterkirche von England, selbst Mutter zweier Kinder, eine prägende Rolle spielen. Mullally selbst äußerte Respekt gegenüber Kritikern am Frauenbischofsamt, sagte aber auch: „Die Kirchen müssen die Gemeinschaften repräsentieren, denen sie dienen“, wobei sie Frauen, ethnische Minderheiten sowie behinderte Menschen einschloss. leg