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Die antiken Graffiti aus dem Kirchturm

Mit Kreide an den Backsteinen, mit Bleistift aufs Treppenholz: Wenn der Pastor wegsah, malten Konfirmanden schon vor 100 Jahren Graffiti im Turm der Segeberger Marienkirche. Eine kleine Zeitreise.

 Kirchenlotse Günther Gathemann zeigt die Schmierereien unter der Treppe
Kirchenlotse Günther Gathemann zeigt die Schmierereien unter der TreppeThorge Rühmann

Bad Segeberg. Der Turm der Bad Segeberger Marienkirche zieht schon von außen Interesse auf sich. Die romanische Backsteinkirche von 1156 macht etwas her: „Wir haben viele Anfragen von Besuchern, die den Turm besteigen und oben die Aussicht auf die Stadt genießen wollen“, sagt Günther Gathemann. Wann immer jemand nachfragt, muss der Kirchenlotse darauf hinweisen, dass der Turm für die Öffentlichkeit gesperrt ist. Der Zugang führt über eine gut drei Stockwerke hohe Wendeltreppe aus Holz, die statisch nicht mehr als ausreichend sicher gilt.

Was kaum jemand weiß: An der Unterseite der Treppenstufen und an weiteren Stellen im Gemäuer des Turms haben sich hunderte Konfirmanden, Handwerker und andere mit ihrer Signatur verewigt. Es sind völlig unterschiedliche Einträge, manche Schriftzüge mit Bleistift fein-säuberlich geschrieben, manche in 20 Zentimeter großen Kreide-Lettern gekrakelt. Die Namen, Jahreszahlen, dazu notierte Wörter und kurze Sinnsprüche verteilen sich über einen großen Teil des Gemäuers. Der älteste Eintrag, der bisher entdeckt wurde, stammt aus dem Jahr 1888. Für Gathemann eine Art historische Schatzkiste: „Der gesamte Turm lädt zu einer Zeitreise ein.“

Tradition Turmbesteigung

Offenbar war es früher Tradition, dass die Pastoren mit den Konfirmanden einmal in den Turm stiegen. Passte der Seelsorger dann nicht genau auf, nutzten die Jugendlichen die Gunst der Stunde und hinterließen ihre Unterschrift. „Ich denke, das war jugendlicher Schabernack“, sagt Gathemann, „das war bestimmt nicht offizieller Teil des Konfirmandenunterrichts.“ Die Kritzeleien finden sich auch auf einem Holzschrank, der das frühere Uhrwerk birgt und bis heute auf der ersten Plattform im Turm steht. Dort steht sozusagen die nächste Generation von Graffiti­: Uhrwerk und Schrank stammen von 1906.

 Kirchenlotse Günther Gathemann und Pastorin Rebecca Lenz haben am Schrank des alten Uhrwerks in der Marienkirche viele Graffiti entdeckt
Kirchenlotse Günther Gathemann und Pastorin Rebecca Lenz haben am Schrank des alten Uhrwerks in der Marienkirche viele Graffiti entdecktThorge Rühmann

Manche der Namen sind in der Region bis heute bekannt – im Guten wie im Schlechten. Den 5. Oktober 1946, ein Sonnabend, hatte sich etwa Jörgen Sontag dafür ausgesucht, sein Autogramm im Turm zu hinterlassen: „Er wurde später Pastor und dann Propst“, weiß Rebecca Lenz, Pastorin an der Marienkirche. Der Theologe habe ihren Mann getauft und schließlich konfirmiert: Sontag lebt bis heute in der Region, noch 2018 hielt er im Rahmen der Wanderausstellung „Neue Anfänge nach 1945“ mit einem Vortrag, in dem er schildert, wie wenig er als Kind und Jugendlicher von den wahren Verhältnissen im Dritten Reich wusste.

Ganz anders Otto Gubitz. 1906 in Hamburg geboren und in Bad Segeberg aufgewachsen, schrieb er am 13. September 1918 seinen Namen auf den Uhrenschrank. Damals war er Konfirmand. Doch 1933, im Jahr der Machtergreifung Hitlers, war er bereits ein glühender Anhänger und Segeberg eine Hochburg der Nationalsozialisten, so Kirchenlotse Gathemann. Nach dem verlorenen Weltkrieg habe Gubitz zehn Jahre in Strafgefangenenlagern in Russland gesessen. „Trotzdem blieb er ein überzeugter Nazi, bis zu seinem Tod.“

Auch ein Kirchendiener verewigte sich

Ein erleichtertes „Halleluja“ entschlüpft Rebecca Lenz, als die Turmbegehung am Fuß der wackeligen Wendeltreppe schließlich wieder endet. „Die Jugend­lichen waren damals auch nicht anders als heute“, sagt sie: Es sei ein Urbedürfnis des Menschen, Spuren zu hinterlassen. „Durch die Graffiti reden wir bis heute über sie und denken an sie.“ Ihr Favorit unter den vielen Graffiti ist in einen Holzbalken des Turms geritzt: ‚Julius Harder, Kirchendiener Segeberg, 1888-1911‘ ist dort zu lesen. „Der wollte sich hier in der Kirche auch verewigen, das finde ich schön“, sagt Lenz. Heute würden die Konfirmanden lieber ihre Spuren in den Gesangbüchern hinterlassen – „zum Leidwesen unseres Küsters“, so die Pastorin. Zum Glück blieben die Kirchbänke bisher verschont.

Sanierung steht an

Neben den Konfirmanden haben auch andere ihre Signatur hinterlassen: Handwerker etwa, die Dach- und Zimmererarbeiten ausführten, und neben ihren Namen gleich das Gewerk schrieben. Gut möglich, dass so bald neue Graffiti hinzukommen, wenn ab 2021 im zweiten Bauabschnitt der großen Sanierung der Marienkirche Wände und Gewölbe des Mittelschiffs restauriert werden.

Parallel sammelt die Segeberger Gemeinde dann Geld, um den Turm zu sanieren. Die uralte Wendeltreppe muss dann weichen, doch die Graffiti an ihrer Unterseite sollen fortbestehen: „Die wollen wir in einer Form aufbewahren“, sagt Lenz. „Vielleicht können wir eine Aktion starten: ‚Wer erkennt sich hier wieder‘?“